Bruce McForester
 
Die Reise

Es war dunkel, man könnte auch sagen: düster, und an das Fenster klopften Regentropfen, gut zum Einschlafen. Fürchtegott Schnitters lag in seinem Bett und starrte an die Decke. Er war zufrieden. Sein Verleger hatte ihm endlich sein neuestes Romanmanuskript abgekauft und versprochen es zu verlegen. 2000 Mark würde Schnitters dafür bekommen, immerhin genug, um die Miete für seine 15 Quadratmeter Wohnung in diesem vergammelten Wohnhochhaus am Rande Münchens bezahlen zu können. Dabei hatte sein Verleger das Manuskript ursprünglich als "zu realitätsfern" abgelehnt. Ein Roman über einen Schriftsteller, für den der von ihm selbst geschriebene Roman zur Realität wird. Fürchtegott Schnitters hatte ihn aber mit einer gestenreichen und mit allerlei rhetorischen Rafinessen durchtränkten Rede überzeugen können, daß die Geschichte ganz und gar nicht realitätsfern sei. Ende gut, alles gut. Beruhigt und zufrieden schlief Schnitters ein und man könnte eigentlich sagen, beenden wir die Geschichte jetzt. Aber nein: The story must go on!

Er wachte auf, als es hell war, sehr hell sogar. Er war noch recht müde, aber er stand trotzdem auf, schließlich mußte es nach der Helligkeit zu urteilen schon Mittag sein. Er schaute auf seine 9,98 Mark Armbanduhr: Viertel vor fünf, morgens. Wieso erst viertel vor fünf? Vielleicht Uhr stehengeblieben, mal hören. Nee, die tickt ganz normal. Merkwürdig. Schnitters sah aus dem Fenster. Er schaute sehr lange, denn erst war er so geblendet, daß er gar nichts sah und dann konnte er es nicht fassen was er sah. Ein grelles Licht aus einer Art Flutlichtscheinwerfer überflutete das Haus in dem er wohnte, so wie manche touristenanziehende Bauwerke in der Innenstadt nachts angestrahlt werden. Aber wieso dieses Haus, ein häßliches Hochhaus mit lauter Sozialwohnungen? Sehr sonderbar. Er sank verwirrt auf das Bett nieder. So bald wie möglich würde er sich beschweren. Er lag so eine ganze Weile auf dem Bett mit geschlossenen Augen und versuchte zu schlafen. Aber es gelang ihm nicht, das Licht war zu hell, es wollte nicht ignoriert werden. Aber vielleicht war es auch mehr seine Verwirrung, die ihn nicht wieder einschlafen ließ. Er versuchte sich zu beruhigen. Alles ganz normal, nichts außergewöhnliches, würde schon alles seinen Grund haben, vielleicht war es einfach eine Verwechslung. Aber schlafen konnte er nicht mehr, soviel war klar. Also stand er noch mal, diesmal endgültig auf, zog sich an, showerte sich (pieseln tat er auch) und machte sich eine Tasse starken Kaffee mit viel Zucker versüßt und aß ein leicht angeschimmeltes Knäckebrot. Gleich fühlte er sich viel besser. Was sollte er jetzt machen, so früh am morgen? Einen kleinen Morgenspaziergang vielleicht. Ja, das war eine gute Idee.
Also ging er die Treppen vom 15., dem obersten Stockwerk runter (der Lift funktionierte schon seit Monaten nicht mehr). Doch als er die Haustür aufmachte durchzuckte ihn so ein Schrecken, daß er sie gleich wieder schloß. Er atmete schwer, dann nahm er allen Mut zusammen und öffnete mit zitternder und schwitzender Hand nochmals die Tür. Draußen auf der Straße stand ein Bus, ein Reisebus mit lauter schlitzäugigen, grinsenden Japanesen gefüllt, die unaufhörlich das Haus fotografierten, aus dem Fürchtegott Schnitters soeben trat. Was war an diesem Haus so besonders? War er in Japan als Autor schon so berühmt, daß man nun um halb sechs Uhr morgens Fotos von seinem Wohn- und Arbeitshaus machte? Nein, das war es sicher nicht. Aber was dann? Er konnte keine natürliche Erklärung finden, nur eine tief im Unterbewußtsein vergrabene beunruhigende Ahnung stieg wage in ihm auf, wurde jedoch sogleich von ihm verscheucht als sie an die Pforte des Bewußtseins klopfte. Es regnete immer noch (das Tief hieß Lilly). Er ging langsam die Straße entlang, bog dann links ab, dann rechts, dann wieder links, dann nochmals rechts. Er achtete nicht darauf, wohin er ging, es war ihm egal, er wollte nur laufen, laufen, laufen. So marschierte er also durch die einsamen Straßen, ein zwei eins zwei, es regnete auf seinen Kopf, in sein Gesicht, ergoß sich über seinen ganzen Körper, durchnäßte seine Jacke, seine Hose, seine Schuhe, er bemerkte es kaum. So kam er schließlich an eine Bushaltestelle. Er wartete dort und nach 25 Minuten kam dann wirklich ein Bus. Er stieg ein, kaufte beim Busfahrer eine Fahrkarte, entwertete sie (Diese Karte wird erst nach Entwertung - je Person gesondert - zur Fahrt gültig. Die Tarifbestimmungen und Beförderungsbedingungen finden Anwendung.), setzte sich an ein Fensterplatz. Er war der einzige Fahrgast. Das änderte sich auch bei den darauffolgenden Haltestellen nicht. Er beobachtete, wie die Regentropfen die Fensterscheiben außen runterliefen, wie sie andere Tropfen mit sich in die Tiefe rissen. Er beobachtete, wie sich das regenabgewaschene Licht der Straßenlaternen, der wenigen Autos die unterwegs waren, der Ampeln und der farbigen Leuchtschriften auf der regennassen Straße widerspiegelten und wie das Licht auf der tropfigen Fensterscheibe ein pointilistisches Gemälde malte.
Dann war irgendwann Endstation. Aber er wollte nicht aussteigen, hier war er am Arsch der Welt oder zumindest am Arsch Münchens: Fabrikähnliche Lagerhallen, hoher Stacheldrahtzaun, ein zerrissenes Werbeplakat. "Träume werden Wirklichkeit," soviel war zu entziffern. Also fuhr er in die andere Richtung wieder zurück, an der Haltestelle vorbei, an der er zugestiegen war, immer weiter, immer tiefer in die Stadt hinein. Der Regen ließ nach und es wurde heller, die Straßenlaternen gingen aus, die Autos wurden zahlreicher, dann war wieder Endstation. Diesmal war er an der Münchner Freiheit und diesmal stieg er aus. Er spazierte langsam die Leopoldstraße hinunter in Richtung Siegestor. Der Regen hatte nun ganz aufgehört und die Straße bevölkerte sich langsam. Er las die Überschriften der Zeitungen: "Die Welt trauert: Präsidentenkatze überfahren" "Bauchschmerzen: Sizilianer verspeiste 92 Teelöffel, vier Feuerzeuge und diverse Tischtuchhalter" etc. Ein etwa 60 Jahre alter Mann mit zwei leeren Plastiktüten in den Händen kam ihm entgegen geschlurft und schrie dabei: "Ticktack ticketicketack tacktick". Als Fürchtegott Schnitters an ihm vorbeigehen wollte, blieb der Mann kurz stehen, sah in an und wiederholte in verschwörerischem Ton: "Ticktack ticketicketack hihi." Schnitters freute sich. War doch alles ganz normal, was hatte er sich vorhin nur so aufgeregt. Die Welt war so verrückt, so irr, so krank und doch irgendwie auch so liebenswert wie immer. Der Scheinwerfer und die Japaner im Bus waren sicher auch nur Zeichen dieser Verrücktheit und dieses Irrsinns, dachte er, obwohl ihm das schon besonders merkwürdig vorkam. Jedenfalls setzte er sich ersteinmal in ein italienisches Straßencafé und nahm einen Cappuccino sowie irgendsoein Gebäck samt Vanilleeis zu sich und nahm sich vor, sich gleich nachher mal bei der Stadtverwaltung über den Scheinwerfer vor dem Haus, in dem er wohnte, zu beschweren.
Etwa eine Stunde später war er dann auch wirklich im Rathaus. Bei der Auskunft sagte man ihm, er solle ins Zimmer 212 gehen. Da stand er nun vor der Tür und übte seine Rede ein, dann ging er einfach hinein. Da saß eine Frau, dick, faltig, Pferdegebiß, dicke, fast undurchsichtbare Hornbrille auf der riesigen Nase, kurzum ungemein häßlich. Vielleicht die Putzfrau? "Hallo, mein Name ist Anna Livia Plurabelle."
"Yeah, sehr erfreut, hören Sie..."
"Ja, womit kann ich dienen?"
"Also vor meinem Haus da steht ein Scheinwerfer..."
"Ich weiß, is wegen den Touristen."
"Aber doch nicht bei dem Haus, das ist ja ganz häßlich."
"Dös macht doch nix."
"Was heißt das macht doch nichts, mir macht's schon was, weil ich nachts nicht schlafen kann!"
"Ach Süßer, nun reg dich doch nicht gleich so auf." Was machte sie denn jetzt? Sie knöpfte ihre Bluse auf, dann begann sie, ihren BH auszuziehen. Mensch, das war zu viel für Fürchtegott Schnitters. Wär ja ganz okay gewesen, wenn sie hübscher... Aber nein, das allein war es nicht, was ihn so aufregte, auch nicht, daß er mit seiner Beschwerde erfolglos geblieben war. Nein, es war etwas anderes, was ihn zutiefst irritierte. Er rannte aus dem Zimmer.
Dann stand er da, auf dem Marienplatz und war ratlos. Der Platz war nun richtig lebendig geworden, ja er wimmelte geradezu vor Menschen. Schnitters zwängte und quetschte sich durch die Massen hindurch und ging durch die Kaufingerstraße, ging vorbei an einer am Straßenrand sitzenden alten Frau mit Kopftuch, die keine Schuhe an hatte, sondern statt dessen Plastiktüten um ihre Füße gewickelt hatte. Sie hielt ein Stück Pappe fest, auf dem etwas in kyrillischer Schrift geschrieben stand. Blöd nur, daß es niemand lesen konnte. Er ging vorbei an einem Straßenmusiker, der sich redlich bemühte, eine Oper mit Gitarrenbegleitung zu jodeln. Vorbei an: Besonders gut am Big-Mac ist die Soße. Island - Geheimnis der Stille. Nein, es ist gerade die Soße die Scheiße schmeckt. Sonnenblumen,- Kürbiskerne, Cashewnüsse, Magenbrot. Goldschmuck. Ja, du hast recht, die Soße schmeckt Scheiße, du hast recht.. WUMMS! fettes Bügelbrett nur 19,90-. Wir helfen im richtigen Augenblick. Sonderangebot: Boxershorts 9,90-. Bastelkeller Biermoser. Institut für Stotterforschung, individuelle Hilfe für Stotterer. Erfahre dein Selbst durch ganzheitliche Meditation. RUMMS! coole Bügeleisen nur 39,99-. Lassen Sie sich nicht irgend etwas aufs Auge drücken. Wer hat meine Katze gesehen? 30.000 Mark Belohnung. Dreaming of a blue Christus. Alles Gute von der deutschen Pute. ERWACHET - der Weltuntergang ist nah.
Dann stand er am Stachus. Der Platz unterhielt sich: "Wo bleibt die denn, das gibt's doch gar nicht!" "Das war ja jetzt Blödsinn." "Eine Mark, eine Mark, eine Zeitung eine Mark." "Aber Tante Lina hat gesagt, sie hätte es da hingelegt." "Entschuldigense, hamse vielleicht ne Zigarette für mich?" "Du der Jemen, das sag ich dir, einfach atemberaubend. Da ist's jetzt nicht so kalt wie hier; im Jemen."
Rumms! Jemen! Fürchtegott Schnitters blieb wie angewurzelt stehen. Im Jemen, da war ja sein ganzes Geld. Er hatte sein ganzes Vermögen nämlich gewissermaßen in Sand gesetzt. Die Geschichte war folgendermaßen: Vor etwa zwei Jahren hatte er aus dem Jemen einen Brief erhalten, in dem ihm ein gewisser Scheich Ali empfahl, sein Geld doch in den "hochwertigen jemenitischen Wüstensand" zu investieren. Das sei eine garantiert gewinnbringende Sache und ohne jedes Risiko. Eine Kontonummer, auf das man das Geld überweisen konnte war freundlicherweise auch gleich angegeben. Also hatte Schnitters damals 10.000 Mark überwiesen. Seitdem hatte er allerdings nie mehr etwas von seinem Geld gehört oder gesehen. Wenn er nun in den Jemen fahren würde und seine 10.000 Mark einfach wieder bei Scheich Ali abholen würde, so hätte er genug Geld, um sich für einige Zeit eine bessere Wohnung ohne Scheinwerfer mieten zu können. Schnitters wehrte sich zwar mit Händen und Füßen gegen diese Idee, aber die war stärker. Was sein mußte, mußte eben sein. Zunächsteinmal aber fuhr mit der U-Bahn nach Hause.
In der U-Bahn sind die Leute merkwürdigerweise immer wahnsinnig darum bemüht, anderen Leuten nicht in die Augen zu schauen. Könnte sich ja einer vom ins Auge schauen diskriminiert fühlen und losbrüllen, oder meinen, man will was von ihm, oder der andere könnte denken, was glotzt der denn da so blöd? Also schauen die Leute angestrengt auf ihre Schuhe, oder verschanzen sich hinter Zeitungen, oder schauen aus dem Fenster, als ob es da draußen im dunklen Tunnel irgend etwas sensationelles zu sehen gäbe, oder studieren konzentriert die Karte mit dem Streckennetz, obwohl sie das schon längst auswendig kennen. Manche schauen auch einfach zur Decke hoch, als ob sie von dort eine göttliche Eingebung erhofften. Zu diesen gehörte im Moment auch Fürchtegott Schnitters. Das konnte doch einfach nicht Wahr sein, das war doch unglaublich, geradezu unmöglich!
Natürlich war er erstaunt und erschrocken, als bei ihm zu Hause eine Schlange durch den Wasserhahn kroch, als er sich gerade die Hände waschen wollte, aber allzusehr verwunderte es ihn nicht mehr. Die Schlange war der endgültige Beweis. Zufall war nun auszuschließen: Sowohl der Scheinwerfer als auch der Reisebus als auch die Frau bei der Stadtverwaltung als auch die Schlange kamen in seinem neuen Roman vor. Und die Hauptfigur in seinem Buch fuhr nach Jemen. Es war unfaßbar, aber anscheinend war er nun in seinem eigenen Roman gelandet, war in die Rolle der Hauptfigur geschlüpft und jedes Aufbäumen dagegen war zwecklos.

Nachdem er einen kleinen Rucksack für die Reise gepackt hatte, verließ er seine Wohnung und ging raus auf die Straße. Da stand er nun. Wie sollte er überhaupt nach Jemen kommen? Sein altes Auto hatte er längst wegen Geldknappheit verkauft. Ein Taxi nach Jemen wäre viel zu teuer und fliegen fiel auch aus, er litt unter chronischer Flugangst. Zu Fuß zu gehen wäre etwas weit gewesen. Er freute sich schon, daß er wohl zu Hause bleiben mußte, da sah er mit Grauen ein gelbes Kinderdreirad auf dem Bürgersteig stehen, unbewacht. Es blieb ihm laut Roman nichts anderes übrig, als sich draufzusetzen und loszufahren. Genau wußte er nicht, wo Jemen lag, über den Jemen wußte er eigentlich nur, daß es dort viel Sand gab. Auch auf den Schildern stand nicht, wo es Richtung Jemen ging, deshalb fuhr er einfach mal auf die Autobahn Richtung Stuttgart. Mensch, das war ihm vielleicht peinlich, er auf einem Kinderdreirad. Schnitters hätte nie gedacht, daß man mit einem Dreirad so schnell würde fahren können. War wahrscheinlich auch nur in seinen dämlichen Romanen möglich. Kurz nach Ulm wurde er dann wegen überhöhter Geschwindigkeit von der Polizei angehalten. Das gab Punkte in Flensburg.
"Wo geht es übrigens nach Jemen?" fragte Schnitters den Polizisten.
"Äh Jemen? Hmm, da müssen's glaub isch über Frankreisch fahre. Aber wenn Sie misch frage tät, also da Jemen isch a Plätzle, wo sicher nich so schö isch wie da Schwarzwald. Desch gönne Sie mir glaabe."

Gut, fuhr er also über Frankreich: durch das Elsaß, im Burgund übernachtete er in einem Weinfaß (nicht übel der Wein), nahm dann Kurs Südwest Richtung Pyrenäen. Die Pyrenäen waren etwas anstrengend zu überqueren - warum müssen da auch so dumme Berge einfach rumstehen! Als er sie endlich überwunden hatte, stand er mit seinem Dreirad in Spanien.

Spanien war ziemlich heiß, d.h. die Temperatur (mal Pulli ausziehen), so heiß, daß sogar seine 9,98 Mark Armbanduhr schmolz und zerfloß und die Zeit verfloß und floß unaufhaltsam dahin und nachdem die Zeit schon eine ganze Weile dahingeflossen war, kam Fürchtegott Schnitters an einen gottverlassenen Landbahnhof, kein Haus, kein Mensch, kein Schwein weit und breit. Nach dem Fahrplan von 1931, der an der Station aushing, hätte bald ein Zug kommen müssen. Also setzte er sich und wartete, wartete, wartete, wartete, wartete, wartete, die tage gingen und kamen und gingen - und tatsächlich, nach sieben Tagen kam bereits ein Zug. Er hielt sogar, niemand stieg aus. Na, dann hielt der Zug also extra für ihn. Schnitters stieg in einen der Waggons ein. War das düster im Zug, der Waggon hatte nicht mal Fenster. Nicht sehr modern, die spanische Eisenbahn, dachte Schnitters, vor Allem roch es so komisch und irgendeiner der anderen Fahrgäste, die er wegen Dunkelheit nicht erkennen konnte, grunzte recht merkwürdig. Vielleicht war dem etwas übel, auch kein Wunder bei dem Gestank. Erst nach einiger Zeit, als sich seine Augen etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte Schnitters die anderen Fahrgäste: Es waren Schweine, lauter fette Säue, wahrscheinlich auf der Fahrt zum Schlachthof. Natürlich, Schweine, daß hatte er doch auch geschrieben in seinem Roman, warum war er denn nicht gleich drauf gekommen! Schnitters bemerkte erstaunt, daß er den Inhalt seines neuen Buches ganz vergessen hatte. Ihm fiel immer erst im Nachhinein ein, daß er das ja selbst geschrieben, was er soeben erlebt hatte. So sehr er sich auch anstrengte es fiel ihm nicht ein, wie die Geschichte denn nun weiter gehen würde aber besonders irritierte ihn, daß er sich an das Ende seines Romans nicht erinnern konnte, denn der Schluß ist ja immer das wichtigste.
Irgendwann, jedenfalls nach einiger Zeit, hielt der Zug. Durch einen Schlitz in der Wand sah Schnitters Kräne und Container, und von irgendwoher kreischten Möwen. Aha, der Zug war anscheinend an einem Hafen, sollten wohl weiterverfrachtet werden über das Meer. Na, Schnitters konnte es nur Recht sein, vielleicht würde er so ja nach Jemen transportiert werden. Erst als sie schon auf hoher See waren fiel ihm ein, daß ja Moslems kein Schweinefleisch essen und im Jemen gab es, soweit er wußte, nur Moslems und viel Sand.

Er schreckte auf. Was war denn das für ein Gepolter? Er sah wieder durch den Schlitz. Sie waren schon da, wieder an Land, wieder in einem Hafen. Er mußte lang geschlafen haben. Die Waggons wurden ausgeladen. Ein Mann machte die Wagentür auf und trieb die Schweine raus. Der Mann war von Schnitters kaum zu überzeugen, daß er kein Schwein sondern ein Mensch sei. Erst als Schnitters ihm seinen Ausweis zeigte, ließ der Mann von ihm ab. Doch wo war er jetzt eigentlich? Der Jemen war es bestimmt nicht, aber da stand ja schon ein Schild: Fáilte and Welcome to Galway, Ireland! In Irland war er nun also gelandet. Ganz in der Nähe war ein Pub, dort ging er hinein. Nachdem er sich in der Toilette seinen Schmutz etwas weggewaschen hatte, bestellte er sich an der Bar ein pechschwarzes, gallenbitteres Guinness. Das Pub war ziemlich leer. Aber je mehr Biere er trank, desto mehr füllte es sich. Waren zum größten Teil Hafenarbeiter. Nach dem x-ten Glas fragte sich Schnitters, was er eigentlich hier herumstehe und saufe, er mußte doch weiter in den Jemen. Er fragte den Barkeeper, ob er wisse, wie er am schnellsten in den Jemen kommen könne.
"Ich kenne da einen," antwortete der Barkeeper, "der will morgen früh mit seinem Schiff über den Ozean fahren, der nimmt Sie sicher ein Stück weit mit. Ist ein Mönch und behauptet, er sei schon 1500 Jahre alt und habe Amerika entdeckt, lange vor Kolumbus. Ist nicht ganz dicht da oben, wenn Sie mich fragen, aber sonst ein gutmütiger Kerl. Brendan heißt er, wenn Sie noch ein Guinness bestellen, führe ich Sie zu ihm."
Brendan war einverstanden, Schnitters durfte mit ihm mitfahren. Stolz zeigte er ihm sogleich sein Schiff: Eine Holznußschale mit Segel. Brendan erzählte, damit sei er schon vor über tausend Jahren auf dem Ozean herumgefahren, und beim Anblick des Schiffes nahm man ihm das beinahe ab. Natürlich kamen Schnitters Bedenken, aber dies war wohl die einzige Möglichkeit, von hier aus in den Jemen zu gelangen, außerdem kostete es nichts. Vielleicht würde es das Leben kosten, aber jedenfalls kein Geld. Am nächsten Morgen wurden die Anker gelichtet und das Schiff, wenn man es überhaupt Schiff nennen konnte, stach mit zwei Mann Besatzung in See: Brendan dem dicken, weißbärtigen Mönch als Kapitän und Fürchtegott Schnitters, dem Matrosen, der nicht recht wußte, wie ihm geschah. Brendan war ein ausgesprochenes Plappermaul. Er erzählte von seinen Abenteuern auf dem Meer, von Riesenfischen und Seeungeheuern, fürchterlichen Stürmen und verzauberten Inseln und oftmals sei er in größter Gefahr gewesen, aber immer habe er dann zu Gott gebetet und immer habe der ihm dann aus der Patsche geholfen. Und er erzählte, wie er Amerika entdeckte, als er eigentlich auf der Suche nach Avalon war, der heiligen keltischen Toteninsel. Zwischendurch erzählte er auch engländerfeindliche Witze: "Kommt ein Gast in ein Irish Pub. Sagt der Barkeeper zum Gast: `Soll ich Ihnen den neuesten Engländerwitz erzählen?´ Darauf der Gast: `Ich bin Engländer !´ Darauf der Barkeeper: `Das macht nichts, ich erzähle ihn ganz langsam.´" Und er lachte sich halb tot und so ging das Tag und Nacht und er unterbrach seine Erzählereien nur, um mal einen tüchtigen Schluck Whiskey zu sich zu nehmen. Es stellte sich heraus, daß der Whiskey der einzige Proviant war, den Brendan mitgenommen hatte. Wenn man hungrig sei, könne man ja schließlich einen Fisch fangen, meinte er, aber Schnitters hatte gar keine große Lust auf Essen. Er hatte schon so genug Mühe, seinen Mageninhalt für sich zu behalten. Nach einigen Tagen auf dem Atlantik fragte Schnitters, wann sie denn endlich im Jemen ankämen. Brendan: "Wieso Jemen, wer spricht denn vom Jemen, nach Amerika fahren wir. Wir fahren nach Amerika, hurra heissa hopsassa, hick. Prost!" Und dann erschien es am Horizont: Amerika, Land der unbeschränkten Möglichkeiten und unmöglichen Beschränktheiten. Heimat von Bleichgesichtern und Rotenhäuten, von Schwarzen und Gelben, Coca Cola, McDonald's, Mickey Mouse, Disneyworld, American Football, Baseball, Basketball, vom Grand Canyon, von der Freiheitsstatue...
Die Freiheitsstatue begrüßte sie, sie waren in New York. Alles viel größer, schneller, lauter als in München, alles noch reicher, noch ärmer, noch verrückter, noch angepaßter, noch widersprüchlicher. Gewühl, Gedränge, Gehupe, World Trade Center, Empire State Building, Chrysler Building, Broadway, Lincoln Center, Central Park, Metropolitan Museum, Vereinte Nationen . . . Schnitters durfte jedoch nicht lange bleiben, er mußte weiter, er mußte in den Jemen.
Ein gnädiger Autofahrer nahm ihn ein Stück weit mit, raus aus der Stadt New York, raus aus dem Staat New York. Der Wagen war ein silberfarbener Ford aus den 50ern und sein Fahrer, ein dunkelgekleideter, magerer, grauhäutiger Mann undefinierbaren Alters, mit einer Vorliebe für heulende Country- und Westernmusik, die unaufhörlich und mit voller Lautstärke aus dem Radio dröhnte, stellte sich als Vampir aus Arkansas vor und gab bekannt, daß er an Deutschland besonders Blutwurst und an München das Hofbräuhaus, das Oktoberfest und den Eifelturm schätze. Vorbei ging es an Riesenwäldern, dann an Riesenfeldern, dann an Riesenwiesen, dann war die Autofahrt zu Ende und Schnitters mußte sich allein durchschlagen. Er wanderte zu Fuß weiter, aber so kommt man nicht weit, denn Amerika ist bekanntlich groß. Glücklicherweise begegnete er einem Pferd, das einsam und alleine auf ihn zu warten schien. Schnitters guckte sich um. Schien niemandem zu gehören, das Pferd, hatte auch kein Sattel auf, vielleicht ein Wildpferd. Jetzt erinnerte sich Schnitters, daß er es ja selbst war, der das Pferd dorthin gestellt hatte in seinem Roman, weil ihm nichts anderes eingefallen war, um seinen Helden über die Weiten der Vereinigten Staaten zu transportieren. Er war zwar noch nie zuvor in seinem Leben auf einem Pferd geritten, aber das Pferd machte keine Probleme sondern trabte mit ihm über die endlosen Prärien, in Richtung Südwesten, er fühlte sich frei. Irgendwie war er jetzt richtig zufrieden mit seinem Schicksal, in seinem eigenen Roman gelandet zu sein. Was gab es da zu meckern, war doch wunderschön, war doch spaßig. In einem Roman ist alles möglich. Wenn er es geschrieben hätte, wären jetzt Monster aus der Erde gekrochen, oder Ufos vom Himmel herabgeschwebt. Hatte er aber glücklicherweise nicht. Wenn er es geschrieben hätte, wäre ihm jetzt vielleicht die schönste Frau der Welt begegnet und hätte sich ihm um den Hals geschmissen. Oder er hätte eine riesige Goldmine oder ein Erdölfeld gefunden und wäre ein gemachter Mann gewesen. Hatte er aber nicht geschrieben, warum denn nicht verdammt nochmal! Statt dessen kam er an den Mississippi. Breiter Fluß, da konnte er nicht einfach drüber. Also ritt er etwas südwärts am Ufer entlang. Er beobachtete, wie das Wasser Flußabwärts floß, ihn zu begleiten schien. Er dachte: Alles fließt, das Wasser, der Schlamm, nur der Lauf des Flusses bleibt bestehen. So ist das nun mal auf dieser Welt, alles was kommt muß auch wieder gehen.
Er gelangte an eine Brücke und überquerte den Strom. Pferdchen machte hop hop hop und weiter ging es im Galopp.

Er ritt und ritt, die Tage kamen und gingen und eines späten Abends - krähenschwarze, bibelschwarze Nacht - traf er auf ein Indianerzelt inmitten der Wildnis, am Fuße der Rocky Mountains, die schemenhaft in die Dunkelheit ragten. Vor dem Zelt saß ein alter, zahnloser Indianer vor einem Feuer und rauchte Pfeife. Ab und zu legte er seine Pfeife beiseite und nahm mit Hilfe eines Strohhalmes einen Schluck aus einer Coladose und aß einen Bissen von einem Hamburger. Schnitters grüßte freundlich. Der Indianer bedeutet ihm, er solle absteigen und mit ihm ins Zelt kommen.
"Du willst deine Zukunft erfahren, nehme ich an."
Schnitters überlegte, wollte er das? Natürlich wollte er das, er wollte doch wissen, wie sein Roman ausging. "Ja."
"Kostet aber was."
"Oh, ich habe aber kaum Geld mit."
"Dann gibst du mir eben dein Pferd."
"Aber das geht doch nicht, ich muß ja noch weiter."
"Das macht nichts." Der Indianer führte ihn hinters Zelt. Dort stand ein Motorrad, genauer gesagt eine blitzblanke Harley Davidson. Wie kam denn der alte Indianer an dieses Ding?
"Dieses Motorrad kannst du als Ersatz für dein Pferd haben" sagte der Indianer. Donnerwetter, Schnitters lachte heimlich in sich hinein, das war ein Geschäft! Der Indianer ging wieder ins Zelt, Schnitters wärmte sich derweil am Feuer. Irgendwo heulte ein Kojote und einige Grillen bezirpten die Nacht.
Nach einiger Zeit kam der Indianer zu ihm raus und drückte ihm die Pfeife in die Hand. Die sollte er rauchen. Schnitters nahm einen tiefen Zug. Merkwürdig, was war denn da in der Pfeife drinnen, Tabak war es jedenfalls nicht. Danach wurde ihm eine schwarze Wurzel gereicht. "Peyote" erklärte der Indianer, "iß!" Er aß. Wie anders wurde ihm. Aus großer Entfernung nahm er Trommelschläge war. Er stand auf, tanzte um das Feuer. Er konnte nicht anders, er mußte tanzen. Die Trommelschläge wurden immer schneller, die Welt um ihn herum drehte sich, verschwamm, und er tanzte immer schneller, bis er umfiel und liegenblieb.

Als er am frühen Morgen aufwachte war er ganz bleich. Er hatte das Ende seines Romans gesehen, schrecklich! Denn das Ende würde auch sein eigenes Ende bedeuten, man würde ihn umbringen im Jemen, das hatte er gesehen und er konnte nichts dagegen machen, obwohl er es nun wußte. Er war Gefangener seines eigenen Romans, er konnte sich gegen dessen Handlung nicht auflehnen, sondern mußte die Vollstreckung des Todesurteils gegen ihn abwarten. Er wollte nicht aufstehen, wäre am liebsten jetzt schon tot gewesen, oder besser noch: nie geboren. Aber der alte Indianer kam und zog ihn hoch. "Du mußt jetzt weiter, Mr Schnitters!" Schnitters setzte sich notgedrungen auf das Motorrad und fuhr los. Er fuhr auf einen Highway Richtung Los Angeles.
Noch am Nachmittag des selben Tages erreichte er LA. In einem der Außenbezirke ging Schnitters in eine Kneipe. Spiel mir das Lied vom Tod. Während der ganzen Fahrt hatte er nachgedacht, was er gegen sein scheinbar unabwendbares Schicksal machen könnte, aber es war ihm nichts Brauchbares eingefallen. Schnitters bestellte einen Russian Wodka made in the USA. Nachdem er diesen hinuntergespült hatte, noch einen und noch einen und noch einen. Saufen wir uns das Leben lustig, sagte er sich und lächelte betrübt. Wird schon alles gut werden. Es half nichts, er würde sterben müssen, da helfen auch einige Gläser Wodka nichts. Nach dem 10. Glas jedoch kam ihm eine Idee: Vielleicht war ja alles nur ein Traum. Er dachte zurück an die Nacht, in der er von einem grellen Scheinwerfer geweckt worden war. Was seitdem geschehen war, war doch viel zu verrückt, als daß es hätte Realität sein können. Ja, es mußte ein Traum sein, er lag in seinem Bett und träumte alles. Aber wie konnte er aufwachen? Erst noch ein Wodka, dann hatte er auch dafür eine Lösung. Er würde Selbstmord begehen. Wenn man im Traum stirbt, wacht man fast immer auf und er wollte nicht warten, bis er im Jemen umgelegt werden würde.
Er bezahlte also und stand auf. Mit seinem Motorrad fuhr er zu einer Brücke außerhalb der Stadt. Wäre er in San Francisco gewesen, hätte er sich von der Golden Gate Bridge werfen können, dem Eldorado der Selbstmörder, aber erstens war er nicht in San Francisco und zweitens wäre es auch nicht sehr originell gewesen, sich von einer Brücke zu stürzen wo schon Tausende vor ihm gesprungen waren. Er ging ans Brückengeländer und sah hinab. Da ging es tief runter etwa 50 Meter. Unten waren Eisenbahnschienen und eine Signalanlage, die auf rot geschaltet war. Er würde springen, kurz bevor ein Zug käme. Da geht man kein so großes Risiko ein, daß man überlebt. Überlebt man den Sturz, dann wird man wenigstens vom Zug überfahren und dann ist man tot, endgültig mausetot. Er stellte sich vor, wie er dort unten liegen würde: Kopf ab, Beine ab, Arme ab und alles in einer großen roten Blutlache. Widerlich, ihm schauderte. Aber es war ja alles nur ein Traum, er würde aufwachen, zu Hause, in seinem warmen Bett, ganz bestimmt, oder etwa nicht? Die Signalanlage schaltete plötzlich auf grün um. Ein Zug mußte gleich kommen! Schnell kletterte Schnitters auf das Geländer. Vor ihm war jedoch nur die Skyline von Los Angeles zu sehen, hell erleuchtet, es war mittlerweile dunkel geworden. Dann hörte er den Zug, zuerst leise, dann immer lauter werdend, und dann sah er auch seine Lichter, wie die Augen einer kasachischen Beutelraubkatze, die sich ihrem Opfer mit schnellen, unbarmherzigen Sprüngen nähert. Er schloß die Augen, begann langsam den Count-Down runterzuzählen, bei null würde er springen. "Drei, zwei, eins, zero - jetzt..." Warum ging es nicht, er hatte sich anscheinend irgendwo mit seinem Pullover verhakt. So eine Pfurzscheiße! Er sah sich um. Hinter ihm stand ein schnurrbärtiger, fetter Riese von Polizist, der ihn unwillkürlich an ein Walroß erinnerte und hielt ihm am Pullover fest. "Ist verboten von der Brücke zu springen" sagte der Polizist. Der Zug donnerte unter der Brücke durch. Das Walroß hob Schnitters zu sich hinüber und die Signalanlage schaltete wieder auf rot um. Der Plan war vereitelt.
Jetzt sah Schnitters: auf der Brücke stand noch ein anderer, dürrer, glupschäugiger Polizist und inspizierte das Motorrad. "Ist das Ihr Motorrad?" fragte der Bulle ihn. "Ja," antwortete Schnitters, der Polizist schrieb etwas in ein Notizheft. Dann mußte Schnitters mit ins Polizeiauto einsteigen und gemeinsam fuhren sie zur Polizeistation.
Was wollten die nur von ihm? War ja wohl sein gutes Recht, von der Brücke zu springen. Er sollte seinen Ausweis zeigen. Schnitters, Fürchtegott, Geburtsort: Berlin, Geburtsdatum: 1.5.67, Wohnort: München, Augenfarbe: blau, Größe: 170,5 cm, Staatsangehörigkeit: deutsch. Sie notierten es, dann suchte der eine Polizist etwas im Computer, machte ein ernstes Gesicht dabei.
"Mr. Schnitters, ihr Motorrad ist als gestohlen gemeldet," sagte er schließlich. Wieso gestohlen? Es war ihm doch geschenkt worden, von einem Indianer.
"So so, geschenkt, von einem Indianer, was Sie nicht sagen." Der schien ihm nicht zu glauben der Polizist, Unverschämtheit! "Ich muß Sie vorläufig festnehmen, Mr Schnitters." Festnehmen, das ging nicht, das konnte man doch nicht mit ihm machen. "Warten sie mal mit dem Festnehmen, ich kann mich nämlich gar nicht dran erinnern, daß ich das in meinem Buch geschrieben hatte."
"Wovon reden Sie?"
"Na wissen Sie, ich bin nämlich Schriftsteller und ich weiß, daß das jetzt scheißverrückt klingt, aber blöderweise bin ich in meinem eigenen jüngsten Roman gelandet. Der Scheinwerfer, die Japaner im Bus vor meinem Haus, die Tante in der Stadtverwaltung, die sich auszog, um mir das fürchten zu lehren, das Dreirad, der Zug mit den Schweinen, der alte Mönch auf dem Atlantik, der alte Indianer, alles wie im Buch. Aber wahrscheinlich ist alles nur ein Traum und deshalb wollte ich mich vorhin auch von der Brücke werfen, damit ich zu Hause aufwache. Und dann mußten Sie ja kommen. War aber auch richtig so, hatte ich ja auch geschrieben, nur nicht, daß Sie mich verhaften und deshalb lassen Sie mich nun gehen, meine Herren." Er war vom Stuhl aufgestanden und im Begriff zu gehen. Aber die Polizisten hielten ihn fest. Er wehrte sich, spürte dann einen Stich im Hintern. Diese Arschlöcher wollten ihn wohl einschläfern, Giftspritzen sind ja ne amerikanische Spezialität. Das letze was er hörte, bevor er hinüber war, war: "Der tickt nicht mehr ganz richtig der Typ." "Ja, der hat nen Dachschaden und zwar nen gewaltigen."

Er wachte auf. Wo war er? Er lag auf einem Bett, so viel war mal sicher. Recht angenehm sogar, Daunenfedern. Er richtete mühsam den Kopf auf, versuchte etwas zu sehen. Es war ziemlich düster, aber durch ein kleines Fenster in der Wand fiel ein wenig Licht in die Dunkelheit. Der Raum war klein und leer, bis auf das Bett und einem Stuhl daneben. Von der Decke baumelte eine Glühbirne, die aber nicht glühte, vielleicht war sie ausgebrannt, so ausgebrannt wie er. Er erinnerte sich an das Gerangel mit den Polizisten. Dann war er jetzt wohl im Gefängnis, wegen Motorraddiebstahls. So, wie dieses Zimmer aussah, konnte es nur eine Gefängniszelle sein. Dabei war er doch ganz und gar unschuldig. Er lag da, auf dem Bett, war zu schwach um aufzustehen und zu schwach zum Denken, lag itzo nur da und dachte an nichts. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, vier Stunden, schlief wieder ein, schlief vielleicht zwölf Stunden, dann wachte er auf. Wieder das selbe Zimmer, was hatte Schnitters auch anderes erwarten können. Immer noch dunkel, bis auf das bißchen Licht vom Fenster. Aber da war doch etwas anders, irgendetwas. Er schielte zur Seite, da saß doch wer auf dem Stuhl. Wer konnte das sein, wie kam der hier rein? Vielleicht ein neuer Gefangener, vielleicht ein Schwerverbrecher, ein Mörder! Schnitters hielt die Luft an, aber das hält der Mensch nun mal nicht lange aus und er mußte husten.
"Sind Sie wach?" fragte eine junge Frauenstimme. Welch Überraschung! Schnitters war sofort hellwach, selten jemals wacher gewesen als jetzt.
"Ich heiße Julia. Julia Destiny. Ich bin hier so eine Art Krankenschwester. Sie sind vorgestern abend hier eingeliefert worden." "Ist das hier ein Gefängnis?"
"Nein, das ist eine Heilanstalt für Geisteskrankheiten."
Mit anderen Worten: Fürchtegott Schnitters war in einer Irrenanstalt, Klapsmühle. Das war ja beinahe noch schlimmer als Gefängnis.
"Ich bin aber gar nicht verrückt," sagte Schnitters, dann schwiegen beide. Schnitters dachte nach. Vielleicht war er ja doch verrückt, wahnsinnig, geisteskrank, irr. Er dachte an seine Erlebnisse der letzten Tage und mittlerweile Wochen. An einen Traum glaubte er nicht mehr. Träume erstrecken sich gewöhnlich nicht über mehrere Wochen. Die einzig plausible Erklärung für all die Ereignisse seit diesem blöden Scheinwerfer war doch eigentlich die, daß er verrückt war. Und selbst wenn er es nicht war, wenn alles so gewesen ist, wie er es erlebt hatte, wenn er wirklich unverschuldet in die Handlung seines Romans hineingeraten war, weil das Schicksal mit ihm ein zynisches Spiel spielen wollte, würde niemand ihm das abnehmen, nichtmal er selbst. Plötzlich kamen ihm Tränen, er konnte sie nicht mehr unterdrücken. War lange her, daß ihm zuletzt Tränen gekommen waren. Er drehte sein Gesicht der Wand zu. Hoffentlich bemerkte sie nichts. Sie schien nichts zu bemerken, denn sie saß da und schwieg, wie eine antike Plastik. Irgendwann schlief er ein und Julia verließ leise das Zimmer.

Auch die nächsten Tage verbrachte Schnitters im Bett. Julia brachte ihm täglich Essen: Cornflakes, Eier, Speck, Toast, Würstchen, Marmelade, Pommes Fritz, Honig, Käse, Suppe, Kaffee, Tee, Saft. Am ersten Tag aß er nichts, am zweiten ein bißchen und am dritten alles. Sie unterhielten sich manchmal, sprachen über alles mögliche, Musik, Sport, Kunst, Bücher, Filme, Reisen, Autos, Politik, Reiherfedern, Joghurtkulturen, Gott und die Welt und dies und das und das und dies, worüber man normalerweise eben so spricht. Schnitters quälte sich lange mit der Frage herum, ob er ihr seine Geschichte erzählen sollte. Sie würde ihn dann ja wohl endgültig als verrückt ansehen. Dann erzählte er ihr doch alles, er mußte es einfach irgendjemandem erzählen, sagte ihr, er glaube, sein eigener Roman sei für ihn Realität geworden und sagte auch, daß er eigentlich noch weiter in den Jemen müsse. Sie hörte sich alles geduldig an und versprach dann, ihm helfen zu wollen, was man jedoch unterschiedlich interpretieren konnte.
Am siebten Tag seiner Einlieferung in die Anstalt hielt es Schnitters nicht länger im Bett aus. Julia hatte ihm frisch gewaschene Anziehsachen gebracht und ihm gesagt, er könne jederzeit in den Gemeinschaftsraum gehen. Das wollte er machen, doch zuvor duschte er noch ausgiebig, denn ihm war eingefallen, daß er zuletzt daheim in München geduscht hatte. Er mußte ja stinken wie das letzte Schwein!
Im Gemeinschaftsraum hielt gerade die ganze High Society der Weltgeschichte ein Meeting ab, als Schnitters ihn betrat: Karl der Große diskutierte mit Picasso über die Vor- und Nachteile der chinesischen Küche, Julius Cäsar flirtete mit Marilyn Monroe, John F. Kennedy talkte zusammen mit Rhamses dem Großen über Krampfadern am Hodensack, und Mulder und Scully fahndeten nach Jack the Ripper, der sich unter einem Tisch Butterbrote schmierte. Desweiteren unterhielten sich Louis Armstrong mit Leonardo da Vinci, Napoleon mit Kolumbus, Shakespeare mit Martin Luther King, Beethoven mit Fidel Castro, Ernest Hemmingway mit Alexander dem Großen, ein vollbusiger Jesus mit einer vollbärtigen Pamela Anderson, Goethe mit Mahatma Gandhi, Robert de Niro mit Hildegard von Bingen, Platon mit König Arthur, Martin Luther mit den Rittern von der Kokosnuß, Robin Hood mit Madonna, Woody Allen mit Buddha, Dali mit Mira Sorvino, und James Joyce plauderte mit Albert Einstein.
Joyce: "Und itz? Und dan?"
Einstein: "E = mc²."
Joyce: "Zähl mir mehr. Zähl mir jedes winzige Wym. Jedes kleinste Klip will ich wissen. Bis zu den Töpfern, die es ins Knopfloch trieb. Und warum waren die Gewässer feucht?"
Einstein: "E = mc²."
Joyce: "Bald flotten wir über die Schwemmung. Wieviel Setzling-Eleven hat sie an Salm? Owyhee, du rätselst es nich, sac mirs, Albert."
Einstein: "E = mc²."
Schnitters wandte sich ab. Mathematisches behagte ihm nicht besonders. In seinem tiefsten Inneren war er nämlich Anarchist und hielt nicht viel von Regeln und Gesetzen. Und Mathematik besteht nun mal aus lauter festgelegten, starren, unabänderbaren Formeln, Regeln, Gestzen, die angeblich im ganzen Universum gelten.
Neben den großen Tieren gab es auch noch andere: Beispielsweise einen schon etwas älteren Mann der am Rande des Raumes auf einem kleinen Schemel saß und nur mit Gummistiefeln und einem Hut bekleidet war. In der Hand hielt er eine Angel. "Na, schon viele Fische geangelt heute?" fragte Schnitters.
"Nein Sir, beißt nichts an, sind schlechte Zeiten.
Schnitters fiel auch eine Frau auf, die sich ihren Bauch hielt und unentwegt stöhnte. Auf die Frage, was mit ihr los sei, behauptete sie, sie hätte ein gläsernes Klavier verschluckt. Schnitters gelangte zur Überzeugung, daß er so verrückt wie die anderen in diesem Raum auf keinen Fall sein konnte.

Es vergingen einige Tage, ohne daß eine wesentliche Veränderung der Situation eingetreten wäre. Eines Nachts jedoch wurde er von Julia aus dem Schlaf gerissen. Er solle sofort mitkommen. Sie habe jemanden gefunden, der ihn nach Jemen bringen könne. Hastig stand Schnitters auf. Wer war es denn, der ihn mitnehmen wollte? "Ein Fährmann," sagte sie. Dann verließen sie das Anstaltsgebäude. Sie gingen runter zum Strand, der nur wenige hundert Meter entfernt war. Dann standen sie da, einander ganz nah. Er fragte sich, warum sie ihm eigentlich half.
"Glaubst du mir denn meine Geschichte, daß ich Teil meines Romans geworden bin?" fragte er sie.
"Nein," antwortete sie und lächelte radikal.
Er sah sie an. Sie sah nicht schlecht aus, ganz und gar nicht schlecht, sie war schön, sehr schön, zum Umfallen schön sogar. Beide fielen in den Sand. Der Sand war weich, die Wellen des Meeres rauschten leise an den Strand. Der Vollmond überzog die Welt mit einem milchweißen Licht, Tausende Sterne funkelten am Himmel. Es war warm, obwohl es schon tief in der Nacht war, nur vom Ozean her wehte ein leichter, erfrischender Wind.
Als sie ausgerammelt hatten, fragte Schnitters, wie denn der Fährmann hieße.
"Charon," antwortete sie.
"Ja, Charon, so habe ich ihn in meinem Buch genannt, der Fährmann des Totenreiches."
"Glaubst du denn wirklich, daß wir uns in deinem Roman befinden?" fragte sie.
"Möglicherweise."
"Wieso möglicherweise?"
"Wahrscheinlich."
"Was heißt wahrscheinlich?"
"Wahrscheinlich heißt wahrscheinlich."
"Ach so."
"Ja."
"Was nun?"
"Ja, natürlich glaub ich's, was dachtest du denn?"
"Dann solltest du vielleicht doch besser in der Anstalt bleiben und dich einer Behandlung unterziehen."
"Nein Julia, das geht wirklich nicht, habe keine Zeit dafür, ich muß jetzt weiter," sagte er energisch.
Sie verabschiedeten sich kurz, dann ging Schnitters den Strand entlang. Nach einer Weile sah er ein kleines Boot, ein Ruderboot. Daneben stand ein Mann.
"Sind Sie Charon?" fragte Schnitters. Der Mann nickte.
"Schön, ich bin nämlich Fürchtegott Schnitters und würde gern in den Jemen fahren." Charon nickte abermals. Schien keine Stimme zu haben, der Mann. Sie schoben das Boot ins Wasser und Charon ruderte mit Schnitters an Bord auf das offene Meer hinaus. Als einziger Luxus hatte das Schiff einen Kühlschrank, der nicht funktionierte und ein Satellitentelefon, das vielleicht funktionierte aber wohl nie von Charon benutzt wurde. Der Mann schwieg wirklich hartnäckig. Im Kühlschrank standen viele Konservendosen. Wenigstens für Essen an Bord war also gesorgt. Als sich Schnitters die Dosen jedoch etwas genauer ansah, mußte er mit Grausen feststellen, daß sie alle das selbe enthielten und zwar eine Spezialität, die nicht gerade zu seinen Lieblingsspeisen zählte: Affenhirn.
Noch am ersten Tag auf dem Schiff fiel Schnitters entsetzt ein, daß ihn im Jemen nichts gutes erwarten würde. In der Irrenanstalt hatte er das mehr oder weniger vergessen. Da hatte er nur raus gewollt. Aber jetzt wurde ihm bewußt, daß er direkt in sein Verderben fuhr. Er dachte wieder darüber nach, was er dagegen tun konnte, aber es war aussichtslos. Resigniert gab er auf. Es machte sich etwas breit in ihm: Angst. Sie kroch langsam an ihm hoch, war nicht abzuschütteln, panische Angst, und er konnte nichts machen, nur warten, nichts zu machen.
Der erste Tag ging vorüber, die Sonne langsam am Horizont unter. Schnitters hatte sich schon lange nicht mehr bewußt einen Sonnenuntergang angeschaut, heute tat er es. Aber irgend etwas störte ihn, irgend etwas war nicht ganz normal, aber was? War es die Form oder die Größe der Sonne, die Art und Weise, die Geschwindigkeit mit der sie unterging? Nein, das alles war es nicht. Dann wußte er es: die Sonne verfärbte sich nicht wie üblich rot, sondern grün. Die Sonne war grün! Schnitters erinnerte sich, daß er das geschrieben hatte. Er hatte gewissermaßen das ganze Universum neu erfunden, war zu einer Art Gott geworden. Aber als Gott müßte man doch auch in das Geschehen nachträglich noch eingreifen können. Schnitters kam eine Idee. Das war es, das mußte gehen! Er fragte Charon, ob er das Satellitentelefon benützen dürfe. Keine Antwort. Als "Ja" zu interpretieren. Und das Telefon funktionierte wirklich, Gott sei Dank. Er wählte die Nummer seines Verlegers: # # # # # # . . . tuut . . . tuut . . . tuut . . . tuut . . . tuut . . . tuut . . . Schnitters wollte eben auflegen - war vielleicht gerade tiefe Nacht in Europa - als sich doch noch eine Stimme meldete, aber nicht die seines Verlegers. Der, so sagte die Stimme, sei in den Urlaub gefahren, aber er werde in wenigen Tagen zurück sein, ob sie ihm was ausrichten solle? Nein, Wiederhören, Scheiße! Schnitters legte das Telefon zurück. Jetzt hieß es warten und das fiel ihm in seiner gegenwärtigen Situation gar nicht leicht. Er sah zu Charon. Der grinste. Warum grinste dieser Wichser so blöd? Der Typ war ihm äußerst suspekt.

Die Sonne verfärbte sich noch oftmals grün, das Boot fuhr vorbei an Hawaii und weiter vorbei an den Inseln und Inselchen der Konföderierten Staaten von Mikronesien. Früher hatten dort einmal Kannibalen gehaust und Missionare gekocht, gesund und schmackhaft! Um das Boot herum, in dem Schnitters saß, schwammen immer ganze Sippen von Haien (einmal hin und einmal her, ringsherum, das ist nicht schwer). Furchtbare Pazifikstürme kamen auf und verwandelten den Ozean in ein Gebirge aus Wasser. Doch all dies machte Schnitters wenig aus. Es stand nun mal nicht im Roman drin, daß er durch Kannibalen, Haie oder Stürme umkommen sollte. Viel mehr bedrückte ihn, daß er auch in den folgenden Tagen den Verleger nicht erreichen konnte. Sie fuhren an der Küste von Papua Neuguinea und den Inseln von Indonesien vorbei und kamen vom Pazifischen in den Indischen Ozean. Es würde nicht mehr lange dauern, dann wären sie im Jemen.
Dann endlich, sie hatten bereits die Malediven passiert, "ist er heute da?" "ja, Momentchen mal!" war er zu sprechen, der Herr Verleger.
"Grüß Gott, Herr Schnitters, wie geht's? Eine erfreuliche Nachricht für Sie: Wir werden noch heute mit dem Druck Ihres Buches beginnen."
"Oh nein, bitte nicht, ich habe nämlich noch einige Änderungen vorzunehmen. Betrifft den Schluß."
"Das ist völlig unmöglich! Der ganze Aufwand und der Zeitverlust."
"Es muß möglich sein. Ich werde ihnen jetzt einfach die Änderungen diktieren."
"Na gut, dadurch wird der Druck aber um ein paar Tage verschoben werden müssen."
Dann würde er sich eben verzögern, Schnitters diktierte.

Es vergingen noch einige Tage, dann waren sie angekommen in Aden (eidn, engl.; arab. adan >Paradies<), Hafenstadt im Süden des Jemen, 360.000 Ew. So weit sich Schnitters jedoch erinnern konnte wohnte dieser Scheich Ali in Sanaa, der jemenitischen Hauptstadt im Norden des Landes. Aber wie dorthin gelangen? Charon hatte seine Ratlosigkeit anscheinend erkannt. Er bedeutete Schnitters, ihm zu folgen. Charon führte ihn durch die engen Straßen und Gassen, schien sich ja prächtig auszukennen. Im Schatten der alten Stadtmauer lagen Kamele, kauten und relaxten. Ebenso einige Männer, anscheinend eine Karawane. Charon wechselte einige arabische Wörter (er konnte also doch sprechen) mit dem Anführer und zeigte dabei auf Schnitters. Der Karawanenführer schaute verächtlich zu Schnitters herüber, Charon gab dem Anführer Geld, dieser nickte, Charon ging zu Schnitters, sagte: "Du wirst noch heute mit der Karawane aufbrechen. In ein paar Tagen seid ihr dann in Sanaa."

So kam es. Die Reise durch die Wüste war abgesehen von ein paar bewaffneten Raubüberfällen auf die Karawane ereignislos geblieben und am späten Vormittag des fünften Tages erreichten sie Sanaa. Sie ritten durch die modernen Außenbezirke in die innere Stadt. Hohe, 5-9geschossige Häuser, Fassaden reich mit weiß gekalkten Reliefs und Gittern aus Ziegel oder Stuck geschmückt. Vorbei an der Großen al-Kebir Moschee, die im gleißenden Sonnenschein erstrahlte. Dann hielten sie. Wir halten. Die Anderen steigen ab. Steig ich auch ab. Werde nicht mehr gebraucht. Kann gehen. Das ist also Sanaa. Verschleierte Frauen. Bettelnde Kinder. Ist aber verdammt heiß heute Mittag, mal Schweiß abwischen. Denken wohl, ich hätte Geld. Habe ich aber nicht. Bin hergekommen um Geld abzuholen, nicht um was zu verschenken. Schreiende Händler. Wer am lautesten schreit, verkauft am meisten. Und wer am besten schreit. Riecht aber gut hier. Bekommt man direkt Appetit. Scheint ein Basar zu sein, ein Gewürzbasar. Was streiten sich die beiden da? Ach, die feilschen wahrscheinlich. Komisch, bei jedem Händler liegt das gleiche, keine Unterschiede. Aber wie soll ich eigentlich Scheich Ali finden? Vielleicht ist der bekannt. Sicher ist der bekannt, ist ja ein Scheich. Ich frag einfach mal den Händler da. Der gibt keine Antwort, schaut mich nur an. Vielleicht hat er mich nicht verstanden. Was starrt mich der Typ nur so an? Jetzt haut er ab, was haut der ab? Braucht doch keine Angst vor mir zu haben. Na, dann geh ich mal weiter.
Schnitters ging weiter. Durch enge staubige Straßen, dann kam er auf einen weiten Platz.
Ist aber ein weiter Platz. Stehen lauter Kamele rum. Ihre Vorderbeine sind zusammengebunden, damit sie nicht weglaufen. Wahrscheinlich ein Kamelmarkt. Was schauen die Leute da? Da ist doch nichts, nur ein weiteres Kamel. Durch seine Nüstern ist ein Strick gezogen. Ein Mann versucht es daran weiterzuziehen. Macht aber komische Bewegungen das Kamel. Was hopst und tanzt das so herum? Scheint nicht mitkommen zu wollen. Das Kamel schreit. Ein unheimliches Schreien. Da spricht jemand hinter mir was auf Englisch. Ich glaub, der spricht zu mir. Was sagt der?
"Das Kamel ist tollwütig, man führt es ins Schlachthaus."
Schnitters drehte sich um. Da stand ein Mann, dunkelbraune Haut, schwarze Haare und Bart, wie alle Jemeniten. "Übrigens, ich habe mitbekommen, daß Sie einen gewissen Scheich Ali suchen."
"Ja, das stimmt. Kennen Sie ihn?"
"Ich kann Sie zu ihm führen."
Sie gingen durch ein Labyrinth enger, abseitsgelegener, leerer Gassen. Schnitters mußte die ganze Zeit an das Kamel denken, wie es nicht mit zum Schlachthaus wollte. Dann waren sie da. Der Mann führte ihn in einen Innenhof, da sollte er warten. Hier also war dieser Scheich Ali zu Hause. Schnitters dachte an die Vision, die er bei dem alten Indianer gehabt hatte. Jetzt würde sich bald herausstellen, ob die Änderungen, die er noch nachträglich für den Schluß seines Romans vorgenommen hatte, Wirkung zeigten. Er war aber überzeugt davon.
Nach einer Weile kam der Mann wieder. Er sagte Schnitters, er solle mitkommen. Sie betraten das Haus. Es hatte nur ein paar kleine Fenster zum Hof, aber keine nach der Straße hin. Schnitters wurde in einen großen Raum geführt. Wände und Decke des Raumes waren vollkommen verspiegelt. Alles wurde tausendfach rück- und widergespiegelt. Schnitters schnupperte. Es roch irgendwie nach Weihrauch. In der Mitte stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Der Mann bat Schnitters sich zu setzen, oder war es ein Befehl? Scheich Ali würde gleich kommen. Der Mann verließ das Zimmer.
Schnitters wartete. Wartete auf Scheich Ali. Der ließ ihn lange sitzen, aber dann kam er endlich. Schloß die Tür ab. Kam näher. Setzte sich auf den anderen Stuhl. Sagte nichts. Schweigen. Totenstille.
"Mein Name ist Schnitters, Fürchtegott Schnitters."
Schweigen.
"Ich hätte gern mein Geld wieder."
Scheich Ali lachte schallend. Der Teufel konnte nicht besser, nicht höhnischer lachen. Dann: abruptes Ende des Lachens. Der Scheich griff in die Hosentasche. Was fummelte er in der Hosentasche rum? Abrakadabra: Er zog eine Pistole heraus. "Du willst dein Geld zurück? Ich lache. Du sein Spion. 007, James Bond."
Der Scheich mußte völlig verrückt sein. Meschugge! Um so schlimmer. Schnitters wurde klar: Er hatte ausgespielt, sich verkalkuliert, seine Idee, den Schluß des Romans abzuändern, war fehlgeschlagen. Verrat! Scheich Ali stand auf und hielt ihm die Pistole an die Schläfe.
"Hast du einen letzten Wunsch, willst du ein Gebet sprechen, willst du noch etwas sagen?" fragte der Scheich.
Schnitters war unfähig etwas zu erwidern. Der wollte ihm sein Hirn wegpusten! Schnitters dachte an das Affenhirn in den Conservendosen, brrr. Gleich würde sein Gehirn auch so aussehen. Zerfetzt & zerbreit. Schädelsplitter. Blut. Aus. Ende. Wie würde sich das wohl anfühlen, wenn die Kugel in den Kopf eindringt? Wahrscheinlich würde er gar nichts merken. So ne Kugel ist ja flink. Ehe man was bemerkt, ist es auch schon vorbei. Der Scheich sagte, er würde bis drei zählen. Schnitters dachte an Gott. Eigentlich glaubte er ja nicht an Gott, aber hoffen tat er schon, daß es ihn gab. Eins. Schnitters dachte an Rührei, dachte an Julia Destiny, an Kartoffelsuppe, an Brendan, den Mönch, an Buttermilch, an den alten Indianer, an Alpenmilchschokolade, Traube-Nuß, an Charon, den Fährmann, an Leberwurst, zwei, an das liebliche Geräusch seines Staubsaugers zu Hause in München, an den Scheinwerfer vor seinem Fenster und es war ihm, als ob es niemals etwas schöneres gegeben hätte als diesen Scheinwerfer.
"Stop!" rief Schnitters.
"Was ist?"
"Die ganze Sache beruht auf einem Irrtum. Sie sind noch bei der alten Vision meines Romans, bei der Sie mich am Schluß umlegen. Aber diese Szene habe ich mittlerweile umgeändert. Nach der neuen Version bringen Sie mich nämlich nicht um, sondern lassen mich leben und geben mir sogar meine 10.000 Mark zurück."
Ein Versuch war es immerhin wert. Doch Schnitters war Realist und erwartete jetzt einen neuen Schwall höhnischen Gelächters. Aber - nichts dergleichen.
"Sind, sind Sie Fürchte- Fürchtegott Schnitters?" stotterte der Scheich.
"Natürlich, habe ich Ihnen doch schon vorhin gesagt."
"Oh Allah, was habe ich Kamel nur getan! Das ist mir aber äußerst peinlich, Herr Schnitters. Selbstverständlich erhalten Sie Ihr Geld zurück."
Der Scheich nahm einen Geldbeutel heraus. "Hier 10.000 DM + ein Flugticket Sanaa - München, Business Class."
Schnitters war verblüfft. Wie schnell sich die Situation verändert hatte. Der Scheich führte ihn zur Haustür. Im Hof stand ein Mercedes, mit einem Mann am Steuer.
"Das ist Hussein, mein Chauffeur," erklärte Scheich Ali, "er wird Sie zum Sanaa - International - Airport fahren. Leben Sie wohl und schreiben Sie gut über mich!"
Zwei Stunden später saß Schnitters im Flugzeug und war bester Laune. Sogar seine Flug- angst hatte er vollkommen vergessen.

Es war bereits spät am Abend als die Maschine auf dem Münchner Flughafen landete. Schnitters nahm ein Taxi. Dann war er in seiner guten alten Wohnung und es kam ihm vor, als hätte er sie erst heute früh verlassen. Er war wieder bei ihr. Damals, vor einigen Wochen, als er zu seiner Reise aufgebrochen war, hatte er sie noch gehaßt. Jetzt war sie für ihn die schönste und beste Wohnung der Welt. Die Zeiten ändern sich eben und wir uns mit ihnen.
Schnitters war hundemüde. Er ließ sich auf das bequemste Bett der Welt fallen, legte die 10.000 Mark auf den großartigsten Nachttisch aller Zeiten und dann: schlief er ein. Er hatte es sich verdient. Er hatte gesiegt, jawoll! Ddschingdarassa dschingdarassa bumm bumm bumm. Der Vorhang schließt sich, das Publikum applaudiert oder buht, einerlei, will aufstehen. Aber halt! Der Vorhang öffnet sich nochmal. Die Geschichte ist noch nicht zu ende. Es gibt ein Nachspiel.

Als er aufwachte war es hell, sehr hell. Scheinwerfer? Nein, diesmal nicht, diesmal war es das Zentralgestirn um das die Erde kreist und das man im Deutschen Sonne nennt. Schnitters sah auf seine Armbanduhr, es war kurz vor elf. Draußen war strahlendblauer Himmel und die Vögel zwitscherten. Oh what a wonderful world! Dann schaute er zum Nachttisch. Er schaute lange und angestrengt. Das konnte doch gar nicht sein! Das Geld war weg! Schnitters sprang aus dem Bett. Er suchte auf dem Boden, unter dem Bett, auf dem Schreibtisch, auf dem Bücherregal, im und auf dem Schrank, zwischen den Büchern und Blättern, die auf dem Boden verteilt waren, im Klo, im Kühlschrank, Gefrierfach, vergeblich. Die 10.000 Mark blieben verschollen, futsch. Vielleicht war jemand in der Nacht eingebrochen. Aber die Tür sah nicht danach aus, daß sie aufgebrochen worden wäre. Vielleicht war ja doch alles nur..., nein das war vollkommen unmöglich, blödsinniger Gedanke! Klingeling, es läutete an der Wohnungstür, klingelingelingeling, komm ja schon.
Vor der Tür stand der Postbote. "Morgen." "Morgen." "Wiedersehen." "Wiedersehen." Tür zu. Mal sehen. Ein Briefkuvert, ein Päckchen und eine Zeitung. Schnitters schaute auf das Datum der Zeitung. Mittwoch, 29. April. Das war der Tag, an dem er abgereist war. Und die Zeitung war eine Tageszeitung, wieso bekam er die dann erst heute? Schnitters lief auf das Treppenhaus. Der Postbote war noch dabei, die Treppen hinunterzusteigen.
"Welcher Tag ist heute?" rief Schnitters runter.
"Mittwoch, 29. April," war die Antwort.
Schnitters schwankte in seine Wohnung, schloß die Tür hinter sich und setzte sich auf den Boden. Dann war itzo doch alles nur ein Traum gewesen, war alles, was er in den letzten Wochen erlebt hatte gar nicht wirklich geschehen. Er saß da und saß und saß und starrte ins Leere. Erst als die Sonne bereits wieder am untergehen war, stand er auf. Er nahm das Päckchen. War von seinem Verleger. Er öffnete es. Drinnen waren: sein neues Buch, ein Scheck über 2000 Mark und ein Brief.
Lieber Schnitters, das Warten hat jetzt ein Ende. Die ersten Exemplare ihres neuesten Buches sind gedruckt und werden in den nächsten Tagen an die Buchhandlungen ausgeliefert. Selbstverständlich wurden die von Ihnen geäußerten Änderungswünsche bezüglich des Schlußteils berücksichtigt. Mit freundlichen Grüßen...
Welche Änderungswünsche? Hastig nahm Schnitters das Buch und schlug die letzte Seite auf. Der letzte Satz war: Plötzlich mußte er anfangen zu lachen, es platzte einfach so aus ihm heraus, das Lachen, und wollte gar nicht mehr aufhören, er lachte und lachte, lachte so laut und so herzhaft, wie er noch nie in seinem Leben gelacht hatte.
Er schloß das Buch. Das hatte er doch nie geschrieben. Der Held sollte doch sterben im Jemen. Schnitters öffnete das andere Briefkuvert. Inhalt: ein Scheck über 10.000 DM, in Worten: ZEHNTAUSEND DEUTSCHE MARK. Absender: ein gewisser Scheich Ali, wohnhaft in Sanaa, Republic of Jemen. Was war nun Schein und was Sein? Verrückte Welt, dachte Schnitters, wahrscheinlich würde er demnächst auch noch eine Postkarte aus LA von einer Julia Destiny erhalten, verrückte Welt. Plötzlich mußte er anfangen zu lachen, es platzte einfach so aus ihm heraus, das Lachen, und wollte gar nicht mehr aufhören, er lachte und lachte, lachte so laut und so herzhaft, wie er noch nie in seinem Leben gelacht hatte.


 
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