Bruce McForester
 
Fortuna
oder: Der Großstadteremit
oder: 4,1,7,7,8,3,1,6

"Vier" sagte die Glücksfee, hielt die Ziffer in die Kamera und lächelte ihr immerwährendes Schaufensterpuppenlächeln, wobei sie ihre zahncremefernsehwerbungsartigweißgetünchten Zähne entblößte. Balthasar Kunze saß auf seinem Bett und lächelte zurück, wobei er seine tiefgelben Zähne entblößte.
"Eins", sagte die Glücksfee und Herr Kunze lächelt wiederum den Fernseher an und saß seelenruhig auf dem Bett.
"Sieben", sagte sie und er lächelte immer noch und war nicht im geringsten beunruhigt.
"Nochmals sieben", sagte sie lächelnd und er sah auf einen Zettel in seiner Hand und sein Lächeln brach langsam in sich zusammen, obwohl er noch immer nicht wirklich beunruhigt war. Nein, es wäre albern gewesen, jetzt schon nervös zu sein, aber ein kleines Kribbeln, das sich langsam von der Nase zu den Ohren und von da zum Nacken hin bewegte, verspürte er schon.
"Und die Acht". Er rutschte nun doch schon auffällig auf dem Bett herum, stand mal kurz auf, um sich dann gleich wieder fallen zu lassen und die nächste Zahl abzuwarten.
"Drei". Herr Kunze stöhnte. Er fühlte, wie sich dicke Schweißperlen auf seiner Stirn und seiner Oberlippe bildeten. Es war ein neues Spiel, Fortuna, ähnlich wie Lotto, und die Ziehung der Zahlen im Fernsehen hatte hohe Einschaltquoten, was wohl daran lag, daß man 10 Millionen Mark gewann, wenn man gewann, was allerdings extrem unwahrscheinlich, um nicht zu sagen fast ausgeschlossen war.
"Eins", sagte sie. Er hatte auch gedacht, daß es so gut wie ausgeschlossen war, zu gewinnen, weswegen er diesmal auch selbst so einen kleinen Zettel ausgefüllt und abgegeben hatte. Aber nun hatte er schon sieben von acht Ziffern richtig.


Regeln: Es sind acht mal Zahlen von null bis neun anzukreuzen. Wiederholungen sind möglich. Entscheidend ist die richtige Reihenfolge. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Die Chance zu gewinnen war folglich eins zu 99Millionen.
Und die letzte Zahl ist... (Spannungspause)... sechs". Balthasar Kunze war leichenblaß, er schloß die Augen. "Scheiße", hauchte er, "ich habe gewonnen, hilfe, was soll ich nur machen?"
Der Fernsehmoderator, der nun statt der Fee zu sehen war, sagte, es würde gleich nach der Werbung bekanntgegeben werden, ob es einen Gewinner gäbe und wenn ja, wer der Glückliche sei. Die Werbung brachte Spots einer Zahnpastafirma und einer Damenbeinenthaarungscremefirma.
Herr Kunze wußte: sein letztes Stündlein hatte geschlagen. Gleich würde er einen Herzinfarkt bekommen und sterben, das war sicher. Er lag auf dem Bett und wartete auf einen stechenden Schmerz im Brustkorb, aber der wollte nicht kommen.
"And the winner is... (Spannungspause)... Herr Balthasar Kunze aus Berlin. Herzlichen Glückwunsch."
Warum hatte ausgerechnet er gewonnen? Warum hatte er ausgerechnet 4,1,7,7,8,3,1,6 angekreuzt, eine völlig zufällige Zahlenkombination? Warum nicht z.B. 9,3,2,4,0,5,8,3 oder 0,2,6,2,7,9,1,2 oder 3,4,4,0,6,5,0,9 oder eine der 99.999.996 anderen möglichen Zahlenkombinationen?

Es gab drei Dinge, die Herr Kunze (sein Äußeres unscheinbar) haßte: Aufregung, Geld und Zufall. Sein Ideal war ein ereignisloses, karges, geordnetes Leben. Ihr fragt warum, weshalb, weswegen? Nun, die Eigenschaften und Eigenheiten eines Menschen werden maßgeblich von zwei Faktoren beeinflußt:
1. dem genetischen Faktor.
2. dem biographischen Faktor.
Da hier auf die Beschaffenheit von Kunzes Erbanlagen nicht näher eingegangen werden kann, wollen wir uns auf den bisherigen Lebenslauf beschränken.


Biographische Daten:
Derzeitiges Alter: 49 Jahre und neun Monate.
Derzeitiger Wohnort: Berlin.
Geboren: ja.
Vater: Karl-Kaspar Kunze
Mutter: Klara Kunze (geborene Oberlandesrichter)
Geschwister: ein Bruder (Melchior Kunze)
Ausbildung: Grundschule, Gymnasium abgebrochen nach 11. Klasse. Erst Leere, dann Lehre. Mit 23 Gründung eines Unternehmens für transportable Fertighäuser auf Holz- und Kunst-stoffharzbasis (B. Kunze GmbH & Co KG für transportable Fertighäuser auf Holz- und Kunststoffharzbasis).
ein Jahr später: Heirat von Fritza Bimmler.
ein halbes Jahr darauf: Scheidung.
ein viertel Jahr später: Heirat mit Lea Cleo Edeltraut Karnowsky.
zwei Jahre darauf: Kauf eines Porsche Carrera.
ein halbes Jahr später: Geburt einer Tochter (Carrera Kunze)
ein Jahr darauf: Kauf eines roten Ferrari.
zwei Jahre später: Kauf einer Villa in Berlin-Dahlem.
Kurz: es geht ihm ausgezeichnet. Sollte man zumindest meinen. Jedoch: Es gibt keinen noch so herrlichen Sonnenauf- oder Untergang, der nicht noch schöner sein könnte, keine noch so gut aussehende Frau, die nicht noch von einer anderen übertroffen werden könnte, kein noch so perfektes Leben, das nicht noch perfekter sein könnte und so genießen wir nicht das, was wir besitzen, sondern sind unzufrieden und streben nach immer mehr. Jeder einigermaßen artgerecht gehaltene Hund ist daher wahrscheinlich zufriedener als der zufriedenste Mensch, solange er sein Futter hat, sein Wasser und seinen Auslauf, ist er vollkommen zufrieden mit sich und der Welt. Bei Kunze kam also, was kommen mußte.


Dreieinhalb Jahre darauf: Balthasar Kunze kauft ein angeschlagenes, grönländisches Iglu-Bauunternehmen auf, muß aber alsbald feststellen, daß es für Iglus in Deutschland aufgrund der hier herrschenden klimatischen und thermodynamischen Bedingungen keinen großen Absatzmarkt gibt. Sein Bau- und Immobilienimperium meldet Konkurs an und wird aufgelöst. Schulden: 3,8 Millionen DM. Frau verschwindet mit Tochter in einer Nacht- und Nebelaktion mit unbekanntem Ziel (unbestätigten Gerüchten zufolge, soll sie sich mit einem ererbten Vermögen in den USA niedergelassen und der Scientology-Organisation angeschlossen haben). Die 1001 falschen Freunde wenden sich ab. Er sehnt sich nach seinem früheren Leben zurück, daß er damals so gering geschätzt hatte, doch es gibt kein zurück, das weiß er. Nach einer ununterbrochenen, sechsmonatigen Sauftour durch alle Eckkneipen Berlins, erkennt Herr Kunze schließlich, daß es so nicht mehr weitergehen kann und so beschließt er, zum Hund zu werden oder besser gesagt zum Eremiten. Er kauft sich eine Einzimmer Wohnung ohne Klingel und ohne Telefonanschluß in einem Sozialenwohnungsbaugebiet.

Beschreibung der Wohnung:
Maße: 5x5 Meter.
Lichteinfall: ein kleines Fenster nach Osten.
Einrichtung: 1 Bett, 1 Stuhl, 1 Fernseher, 1 Hammer, 1 großer Kühlschrank, in den sich Herr Kunze manchmal zurückzieht, wenn es ihm im Sommer all zu heiß wird, 1 Geige, auf der Herr Kunze immer dann fiedelt, wenn irgendein Festtag ist, z.B. der 100. Geburtstag seines Urgroßonkels dritten Grades, so daß die Nachbarn an die Wände klopfen und Klopfen ist ja bekanntlich als Beifall aufzufassen, pochpoch und die Fiedel fiedelt, pochpoch und die Fiedel fiedelt.


Und dort lebte er nun schon seit 15 ½ Jahren glücklich und zufrieden. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit der Herstellung und dem Verkauf von Vogelhäuschen. jegliche Kontakte mit den ihm noch verbliebenen Freunden hatte er abgebrochen. Seinen Bruder hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Der reiste jetzt bereit seit Jahrzehnten durch die Welt, immer auf der Suche nach dem großen Abenteuer, dem großen Glück und der verlorenen Zeit (immerhin dauerten dessen Beziehungen zu Frauen heute manchmal zwei Monate anstatt wie früher zwei Tage (he du kleine Buchhändlergehülfin mit dem runden Pfannkuchengesicht und den ungleichmäßig geformten, sprengwolleverstärkten Titten, ich hab dich inhaliert und tschüss, aber mir klebt immer noch dieses Knetgummizeug unter den Fingernägeln, mit Sprengstoff sollte man sich eben auskennen)).
In den 15 ½ Jahren eremitischen Lebens von B. Kunze war nie etwas außergewöhnliches geschehen. Jeder Tag verlief wie der andere. Alles verlief nach Plan.

Fahrplan:
7.00 Uhr: Aufstehen, anziehen.
7.10 Uhr: Frühstück: 2 Toasts, Sardinenleber, Bananensaft, dünner kalter Kaffe.
ab 7.25 Uhr: Arbeiten (Vogelhäuschenbasteln).
12.14 Uhr: Einkaufengehen.
12.57 Uhr: Zurückkommen.
13.06 Uhr: Mittagessen (Reis mit Wildreis).
13.32 Uhr: Geschirrspülen.
ab 13.35 Uhr: Weiterarbeiten (Vogelhäuschenweiterbasteln).
18.03 Uhr Abendbrot (Butterbrote).
ab 18.21 Uhr: Fernsehen, aber keine allzu aufregenden Sendungen.
22.56 Uhr: Putzen und Zähnewaschen.
22.02 Uhr: zu Bett gehen.
23.05 Uhr: Einschlafen.


Und heute? Heute war der 15. Dezember und es schneite Schneeflöckchen, holleholle. Heute war das Ende! Alles war in Unordnung geraten. Die Welt war aus ihren Fugen gerissen worden. Herr Kunze saß immer noch vor dem Fernseher, und was haben Sie gemacht, als Sie festgestellt haben, daß Sie wie eine alte impotente Klapperschlange klapperklapper aussehen? Ich habe mich umgebracht, ach so, und wie fühlt man sich so dabei? Augenzeugen berichten von heftigen Gefechten, von Massenhinrichtungen, Vertreibungen und Folterungen, die Wölfe treiben ihr Opfer kilometerweit vor sich her, bevor sie es einkreisen und anfallen, zieh deinen Revolver, du Kojote, jetzt frag ich mal Herrn Professor Nickelbart, du Schwein, ich mach dich kalt, was es für Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt hat, und Tor, Toor, wenn die Genitalien plötzlich und völlig unpassend anschwellen, das ist Dramatik pur, zu Risiken und Nebenwirkungen, lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Er saß völlig unbeweglich da, während die Satzfetzen an sein Ohr drangen, und gleich geht es im Programm weiter mit der Harry-Schmitz-Schau, als er plötzlich entsetzt feststellte, daß es schon 23.01 war und er sich eigentlich bereits vor 5 Minuten putzen und die Zähne waschen hätte sollen müssen. Er lag nicht im Plan, zum ersten mal in den letzten 15 ½ Jahren lag er nicht im Zeitplan! Er mußte heute das Zähnewaschen ausfallen lassen, um noch rechtzeitig ins Bett zu kommen.

Die Ordnung war endgültig dahin, das Chaos hatte geputscht, es hatte sich den Zufall zum Verbündeten gemacht und gemeinsam hatten sie die Ordnung gestürzt und die Macht übernommen. Das Chaos drang in die Gehirnwindungen von Balthasar Kunze ein. Er zog die Bettdecke über sich und schloß die Augen, 4,1,7,7,8,3,1,6 and the winner is... Balthasar Kunze aus Berlin, herzlichen Glückwunsch. Er wußte nicht weiter, er wußte nicht was nun, er wußte nicht was tun, er wußte nicht wo stehen, er wußte nicht wohin gehen. 15 ½ Jahre Frieden waren plötzlich dahin. Er wollte das Geld nicht, Geld hatte ihm schon mal sein Leben beinahe zerstört, damals war es ihm zu Kopf gestiegen, damals dachte er, er sei unverwundbar, unschlagbar, hatte dieses Iglu-Unternehmen gekauft und plötzlich gar nichts mehr gehabt. Und dann hatte er völlig neu angefangen, ein zweites, anderes Leben begonnen, hatte mit Verkauf von Vogelhäuschen genau so viel Geld verdient, wie es zum Überleben nötig war und keinen Pfennig mehr oder weniger. Vor ein paar Tagen dann, als Kunze gerade friedlich einkaufen ging, hatte ihn diese Damenbeinenthaarungscreme, die für die tadellose Enthaarung der Beine der Fortuna-Fee verantwortlich war, auf offener Straße angesprochen, ob er nicht mal die Damenbeinenthaarungscreme testen wolle. Er hätte gar keine Damenbeine, hatte Kunze versichert, worauf die Damenbeinenthaarungscreme lachend erwidert hatte: "Na dann spielen Sie trotzdem bei Fortuna mit, hier kreuzen Sie einfach diesen Zettel hier an, d können Sie 10 Millionen gewinnen." Er hatte gefragt, ob es denn wahrscheinlich sei, zu gewinnen, worauf sie etwas verlegen geantwortet hatte: "Na ja, es ist zumindest möglich." Und er hatte gesagt, er spiele nur dann mit, wenn sie ihm versichere, daß es ganz und gar unwahrscheinlich sei, zu gewinnen, beinahe ausgeschlossen und die Enthaarungscreme hatte ihn erst ganz dämlich angestarrt, dann aber gelacht als hätte er gerade einen ganz famosen Scherz gemacht, und gesagt: "Na ja, eigentlich ist es völlig unmöglich." Und dann hatte er völlig sorg- und gedankenlos zufällig diese Kombination angekreuzt: 4,1,7,7,8,3,1,6. Und jetzt hatte er den Salat: 10 Millionen Mark gewonnen und im Fernsehen war sein Name genannt worden. Wenn ihm keine Lösung einfallen sollte, wie er das Geld wieder loswerden könnte, dann wäre sein Leben zum zweiten mal zerstört und dann wahrscheinlich für immer.
Er sah auf seine Armbanduhr: 9 Minuten nach 23 Uhr. Vor drei Minuten hätte er nach Zeitplan einschlafen müssen und bis zum heutigen Tag war er immer pünktlich auf die Minute eingeschlafen, nicht früher und nicht später. Jetzt aber hatte er Verspätung! Diese Tatsache machte ihn nun völlig nervös und diese Nervosität verhinderte ein Einschlafen und je später es wurde, desto nervöser wurde er. Er schwitzte wie Espenlaub, nein, das zittert, also dann eben wie eine Weihnachtsgans im Backofen oder wie ein Mensch, der völlig fix und fertig im Bett liegt und dem die Gedanken nur so durchs Hirn fliegen und hin und her flattern, wie ein Schwarm von Schmetterlingen, die sich paaren und fortpflanzen, Geburtenüberschuß, man sollte mal über Verhütungsmittel für Gedanken nachdenken.
Als Balthasar Kunze dann um halbfünf endlich doch kurz davor war einzuschlafen, nahm der Stuhl die Fiedel und begann zu fiedeln und wild um das Bett herum zu tanzen und der Kühlschrank öffnete seine Klappe und sang: "Du bist am Ende haha, du bist am Ende haha", und der Fernseher sprach: "Herzlichen Glückwunsch!" und die Wände klopften Beifall.

Als Herr Kunze um 11.49 Uhr aufwachte, schaute er auf seine Armbanduhr und stellte erschrocken fest, daß es schon 11.49 Uhr war und damit fast 5 Stunden später, als sein eigentlicher Aufwachtermin. Zum ersten Mal in den letzten 15 ½ Jahren hatte er verschlafen. Der Schlaf hatte nichts verändert, nichts verbessert, eher alles noch verschlimmert. Kunze fühlte sich so schlecht wie seit langem nicht mehr. Er begann ein Vogelhäuschen zu bauen, aber es mißlang. Also ging er einkaufen, 6 Minuten früher als gewöhnlich. Und - auch das war neu - er kaufte sich zwei Zeitungen: die B.Z. und die Berliner Morgenpost (Berliner Schnauze "Mottenpost"). Er hatte seit 15 ½ Jahren keine Zeitungen mehr gekauft, weil er sich nicht für die Außenwelt interessiert hatte. Heute aber prangte auf der Titelseite der B.Z die Schlagzeile: Berliner gewinnt 10 Millionen. Auch die Mottenpost brachte einen Bericht darüber, wenn auch kürzer neben einem Artikel zur bevorstehenden Bundestagswahl. Zu Hause las er B.Z.: Beim Gewinnspiel Fortuna gewann Herr Balthasar Kunze aus Berlin gestern Abend 10 Millionen Mark. Er hatte die richtige Zahlenkombination 4,1,7,7,8,3,1,6 angekreuzt. Es gelang uns bislang leider noch nicht, telefonischen Kontakt mit dem glücklichen Gewinner aufzunehmen. Das war's. Drunter: Eine 95 jährige Berlinerin wurde irrtümlich für tot erklärt. Als sie gestern abend im Leichenschauhaus Köpenick erwachte und ihrem Sarg entstieg, erlitt der diensthabende Aufseher einen derartigen Schock, daß er kurze Zeit später verstarb. Pochpochpoch klopfte es, aber nicht die Wände klopften diesmal, sondern die Tür. Das war ungewöhnlich. Herr Kunze ging der Sache nach. Draußen standen eine Fernsehkamera und mehrere Fotoapparate. Die Fernsehkamera überreichte ihm einen Sack. Geldsack. 10 Millionen in 10.000 x 1000 Markscheinen. Behalten Sie's doch, ich will ihr Geld nicht.
"Herzlichen Glückwunsch! Wie fühlen Sie sich jetzt als Multimillionär? Herr Kunze, ein kleines Interview, könnten wir Sie mal kurz interviewen, nur kurz, nein?"
"Nein."
"Tja liebe Zuschauer, das ist natürlich verständlich, daß Herr Kunze mit seinem Glück erst einmal alleine sein will, es ist doch immer ein bewegender Augenblick, wenn man einen armen Menschen reich und glücklich machen kann."
Herr Kunze drückte die Tür zu. Da stand er nun mit seinem Geldsack. Knüppelausdemsack! Wie hieß noch gleich der Esel der Golddukaten schiß? Raupe Nimmersatt. Ich bin so satt, ich mag kein Blatt, mähmäh. Meine Damen und Herren, willkommen zur Märchenstunde. Jedes Märchen ist Realität, jede Realität ist ein Märchen, Märchen machen weise, haltbar bis ans Ende aller Tage, jedoch vor Gebrauch gut schütteln, kühl und trocken lagern! Pardon, mein Sack juckt irgendwie, so ein Dilemma, aber wir werden das schon managen! Sackhüpfen ist übrigens noch keine offizielle olympische Sportart. Was macht man also mit einem Geldsack, wenn man ihn gar nicht haben will? Verbrennen. Nein, das stinkt doch, außerdem verstößt das gegen die Hausordnung und die Feuerschutzverordnung. Bei Zuwiderhandlungen ist mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen. In den Altpapiercontainer damit. Nee, nee, ist dann doch irgendwie ein bißchen schade ums Papier, aber behalten will ich es auch nicht.
Ein US-Justizsprecher bestätigte gestern, daß unter den 185 Menschen, die letztes Jahr in den Vereinigten Staaten hingerichtet worden sind, auch zwei Personen gewesen seien, deren Unschuld im nachhinein festgestellt wurde. Dies seien bedauernswerte Justizirrtümer. Der Sprecher betonte, daß solche Einzelfälle nicht völlig ausgeschlossen werden könnten, solange der Staat seine Bürger wirkungsvoll vor Verbrechern schützen wolle. Bei einer Umfrage in den USA sprachen sich 78% für die Todesstrafe aus. In Deutschland würden 55% der Befragten eine Wiedereinführung befürworten. In den USA wurde ein Mann freigesprochen, der einen angetrunkenen Touristen erschossen hatte. In Großbritannien wurde ein junger Mann zu 15 Jahren Haft wegen Ladendiebstahls verurteilt: er war zum wiederholten Male beim Stehlen von Kaugummis erwischt worden. Lola läßt die Knospen auch im Winter sprießen. Heute Abend großer Boxkampf in der Max-Schmeling-Halle um vakanten WM-Titel im Federgewicht. Heute letztes Spiel für Hertha BSC vor der Winterpause. Gepflegte Büroklammersammlung preiswert abzugeben. Abonnieren Sie jetzt: Der Blaue Writer - nur für Verrückte. Boxhandschuhe (Schuhgröße 52) zu verkaufen. Ohrenbackensessel zu verkaufen. 1000 Superschaufensterpuppen. 25 jähriger Jurastudent, schlank und sportlich, sucht beinamputierte Frau für ein Leben zu 2t. In Gedanken versunken überflog Herr Kunze die Kleinanzeigen der B.Z. Suche gebrauchte ungarische Zahnimplantate zu billigem Kaufpreis. Riesengummipenisse: 30cm: 30 Mark; 60cm: 60 Mark; 90cm: nur 85 Mark. Bestellen Sie jetzt! Nur so lange der Vorrat reicht!

G E D I C H T:
Der Mensch ist schon ein seltsam Tier
jedoch er kann ja nichts dafür
Er ist nun mal degeneriert
Drum lebt es sich ganz ungeniert

Als er sie sah, war es Liebe auf den ersten Blick. Die Anzeige mit dem Weihnachtsspendenaufruf. Verband zum Schutz von Spul- und Bandwürmern, Sektion Berlin. Kontonummer XXXXXXXXXXX. Eine gute Tat tun - sehr befriedigend, Friede sei mit euch, beruhigt das Gewissen, Halleluja, Hallojulia, es geht auf Weihnachten zu, also spendet, macht Spul- und Bandwürmer glücklich, auch sie sind ja schließlich Menschen und haben ein Recht auf Glück und Selbstentfaltung, bis in alle Ewigkeit, amen.
Herr Kunze verließ abermals seine Wohnung, diesmal um zur Bank zu gehen, zusammen mit Geldsack.

Wetterlage.
Großraum Berlin:
Das Tief Dia bringt feuchtkalte Luftmassen aus dem Nordatlantik nach Mitteleuropa. Heute Nacht stark bewölkt mit sturmartigen Böen. Zeitweise Schneefall. Temperaturen: -8° bis -5° Celsius.

Taschentücher haben zur Zeit Hochkonjunktur, weil Nasen tropfen. Die Nasen tropfen in die Taschentücher, ebenso die Nasentropfen. Der Ku'damm ist von Kopf bis Fuß auf Weihnachten eingestellt. Gummitannenbäume, echte Tannenbäume, elektrische Kerzen, Wachskerzen. Geschenke verteilende Kaufhausweihnachtsmänner, dschingelbellsdschingelbellsdschingelingeling. Die Leute hetzen aneinander vorbei. Tausende von Menschen, Individuen, mit Tausenden von Biographien, Erinnerungen, Erlebnissen, Erfahrungen, und das langweiligste Leben gäbe noch Stoff für einen Roman von über tausend Seiten. Auf dem Kurfürstendamm sind sie nichts als eine brodelnde, schwitzende, zuckende Masse von anonymen Herzen, Hirnen, Lungen, Lebern, Wirbelsäulen, Mägen, Därmen, Nieren, Blasen, Adern. Ein Mann bricht mit einem Herzinfarkt zusammen. Mami schau mal! Der Kaufhausweihnachtsmann geht zu ihm hin und überreicht auch ihm ein Geschenk. Ist das aber lieb vom Weihnachtsmann. Auf dem Boden liegt der Mann und umklammert das Geschenk mit blau angelaufenen Fingernägeln und die Leute überlegen, was sie ihren Lieben schenken sollen. Manche Leute haben bereits eingekauft, treffen einen Bekannten auf der Straße und man kommt ins Gespräch. Man spricht über Gänsebraten, Karpfen blau, Winterreifen, die innere Struktur von Eiskristallen, die Wahrscheinlichkeit eines Meteoriteneinschlags in Berlin, Ufos oder das Balzverhalten von Schnepfen.

Exkurs:
Schnepfen (zitiert nach Brockhaus):
Schnepfen (zu Schnabel), Arten der Schnepfenvögel; Sumpfvögel mit langem, geraden Schnabel. In Europa gibt es 3 Arten von Sumpfschnepfen und die Waldschnepfe (Scolopax rusticola); der Balzflug des Männchens, der "Schnepfenstrich", findet in der Dämmerung statt.

Glühwein gibt es auch, am Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche.
Eine Grippewelle geht um.
Der alte Penner da in der Nebenstraße, der zwischen den Mülltonnen rumlungert mit der 1 Liter Schnapsflasche in der zitternden Hand, ist das nicht Herold Jahnke, Schauspieler und Entertainer, während seines 2500. Alkoholexzesses?

Sachen gibt's, die gibt's nicht. Es gibt Zufälle, die kann man nicht glauben, weil sie jeder Wahrscheinlichkeitsrechnung spotten. Es ist beispielsweise sehr unwahrscheinlich, durch einen Flugzeugabsturz ums Leben zu kommen, oder im Lotto zu gewinnen. Und doch gibt es Leute, denen genau dies widerfährt. Es ist auch äußerst unwahrscheinlich, überhaupt geboren zu werden. Du wärst nie geboren worden, hätten sich deine Eltern nicht kennengelernt, und deine Eltern hätten sich gar nicht kennenlernen können, wenn sich auch nur von einem Elternteil dessen Eltern nicht gefunden hätten usw. Ganz andere Menschen hätten statt deiner geboren werden können. Es ist an der Zeit, derer zu gedenken, die niemals geboren wurden und die niemals geboren werden.
(Der Leser wird aus diesem Anlaß gebeten, an dieser Stelle eine Minute lang innezuhalten, bevor er weiterliest)

Es gibt also unendlich viele Möglichkeiten, wie die Welt verlaufen könnte, aber nur eine davon tritt ein. Manche sagen, alles sei von Gott oder wem auch immer vorherbestimmt, andere nennen es Schicksal oder eben Zufall.
Ein großer Zufall (bzw. Pech) war natürlich auch der Gewinn von Balthasar Kunze bei Fortuna. Kunze wandert zur Zeit immer noch durch das winterliche Berlin mit einem Geldsack auf dem Rücken und die kleinen Kinder halten ihn für den Weihnachtsmann. Sein Ziel ist eine Filiale der Dresdner Bank, wo er das Geld auf das Konto des Verbandes zum Schutz der Band und Spulwürmer überweisen will. Und hier nun wird sich ein weiterer entscheidender Zufall ereignen. Es kommt jetzt nämlich noch eine andere Person ins Spiel, die ausgerechnet heute, ausgerechnet vor dieser Filiale der Dresdner Bank auf und ab geht (Achtung, nicht in die Hundescheiße treten!). Diese Person heißt Pjotr Meyer und ist 30 Jahre und zwei Monate alt. Seit zwei Stunden geht er nun schon so auf und ab vor der Bank und raucht eine Zigarette nach der anderen, mit zittrigen Fingern. Merkwürdiges Verhalten, ohne Zweifel. Fällt aber niemandem auf. So kann das aber doch nicht ewig weitergehen! Meyer kramt in seiner linken Hosentasche, das ist die falsche, also in der rechten, das ist die rechte. Er nimmt die schwarze Damenunterhose seiner Frau Minze heraus und stülpt sie sich über den Kopf. Wo ist den jetzt schon wieder die Waffe, verdammt noch mal? Ah ja richtig, das Schweizer Taschenmesser befindet sich in der linken Brusttasche. Na denn mal rein, halt vorher erst noch aufklappen, nee das ist die Nagelfeile, oder ist es doch das Messer? Ist doch das Messer! Also los.

Es dauerte eine Weile, bis Herr Meyer endlich bedient wurde, da eine lange Schlange vor dem Kassenschalter stand.
Definition Schlange (Zitiert nach Wahrig Deutsches Wörterbuch)
1. Angehörige einer Unterordnung der Schuppenkriechtiere, Körper lang, Gliedmaßen fehlen: Serpentes, Ophidia;
2. (fig.) falsche, hinterhältige Frau;
3. Sternbild am Himmelsäquator, Serpens;
4. etwas Langgestrecktes, Gewundenes;
5. lange Reihe wartender Menschen.

Bei der Schlange vor dem Kassenschalter handelte es sich um die in Punkt 5 definierte.

Herr Meyer mußte sich also anstellen und warten, bis er an der Reihe war (was ihm mißfiel), doch dann war er an der Reihe und plötzlich wußte er nicht mehr, was er sagen sollte.
"Entschuldigung", sagte er, aber das war ja albern, man entschuldigt sich doch nicht, wenn man eine Bank überfällt.
Also sagte er: "Nee, nicht Entschuldigung, dies ist ein Banküberfall, rück die Kohle raus oder ich mach dich kalt Baby!" Das hatte er mal in so `nem amerikanischen Film gesehen, da hatte der Bankräuber zur hübschen Bankangestellten gesagt, "... oder ich mach dich kalt Baby", und seltsamerweise hatte das der Angestellten gefallen und irgendwie entwickelte sich daraus sogar eine Liebesgeschichte. Meyer merkte, daß dieser Spruch in seinem Fall aber äu-ßerst unpassend war, saß doch hinter dem Schalter ein Mann älteren Jahrgangs. Unter der Unterhose lief Meyer etwas rot an. Mein Gott, Herr Meyer macht doch keine Männer an. Er wurde immer nervöser, sein Auftreten erschien ihm so lächerlich, dabei hatte er doch ein halbes Jahr lang alles vorbereitet, alles genau geplant, ausgetüftelt und durchdacht.
Vor vier Jahren war er arbeitslos geworden, einen neuen Job hatte er trotz intensiven Bemü-hungen nicht bekommen. Nur eine Firma (ein wichtiger Arbeitgeber in der Region), die auf Auftragsmord spezialisiert war, wollte ihn als Berufskiller engagieren. Nach reiflicher Überlegung hatte er das Angebot allerdings abgelehnt. Menschen einfach umzubringen, das er-schien ihm dann doch recht unmoralisch. Aber noch hatte ja seine Frau einen Job gehabt. Doch dann hatte sie vor neun Monaten einen schweren Autounfall an dem ein Geldtransporter beteiligt war gehabt und seitdem war sie querschnittsgelähmt. Und alles nur, weil er zu faul gewesen war, selber z fahren, um die notwendigen Besorgungen zu machen. Seine Schuldgefühle hatten wie tausend Felsbrocken auf ihm gelastet und die Tatsache, daß die Familie nun auf Sozialhilfe angewiesen war - es existierten auch noch zwei kleine Kinder (1&2) - hatten ihn in kilometertiefe Depressionen gestürzt, bis er auf die Idee mit dem Banküberfall gekommen war.
Natürlich war er verdammt nervös gewesen. Heute morgen war er mit schrecklichen Bauchschmerzen erwacht. Der Zusammenhang zwischen Nervosität und physischen Beschwerden ist statistisch belegt:

STATISTIK:
Durch Nervosität ausgelöste Beschwerden:
· Bauchschmerzen: 52%
· Kopfschmerzen: 39%
· Atemnot: 36%
· Herzbeschwerden: 21%
· Magengeschwür: 8,6%
· Halsschmerzen: 8,5%
· Zahnschmerzen: 3%
· Schnupfen: 2,5%
· Husten:2,5%
· Fußpilz: keine Angaben
· plötzlicher Hirntod: 0,02%
· Aids: wird noch erforscht
· Sonstiges: 4%
· gar nichts: 18%
· alles zusammen: 43%
alle Angaben ohne Gewehr

Aber warum eigentlich nervös sein? Was sollte eigentlich schon schiefgehen, bei der langen Vorbereitung, inclusive Yoga? Er war auf alles vorbereitet, nichts konnte ihn aus dem Concept bringen.

"Kohle ham wa leider nich, wir heizen mit Gas, aber darf ick Ihnen Sahnetorte mit Kaffee anbieten?" sagte der Bankangestellte zu Meyer. Meyer machte den Mund weit auf, um etwas zu sagen, wußte aber nicht was. Etwa eine Minute stand er so da mit offenem Mund. Welch lachhafte Pose! Er spürte, wie das Blut in seinen Kopf schoß, gut, daß er die Kapuze aufhatte. Schweiß rann ihm von der Stirn, 0:1. Der Bankangestellte machte ein Gesicht, als ob alles bester Ordnung sei. Aber innerlich, da war sich Meyer sicher, jubelte er. Was für eine Schmach, was für eine Niederlage! Geordneter Rückzug, das letzte, was blieb. "Danke, keinen Hunger", krächzte Pjotr Meyer. Er drehte sich um, um zu gehen. Ein halbes Jahr hatte er sich akribisch vorbereitet und jetzt sollte er einfach abziehen, ohne Beute, nur weil ihn ein entweder frecher oder sautrotteliger Bankangestellter etwas durcheinander gebracht hatte? Nein, das konnte nicht sein. Ein Versuch wollte er noch machen. Er wandte sich wieder zum Angestellten:
"Ich will kein Kuchen, ich will Geld!"
"Ach Se wollen een Kredit?"
"Bitte?"
"Da bräucht ick erst eenmal Ihr polizeiliches Führungszeuchnis."
"Was?"
"Watn, watn, na hamses nich dabei?"
"Nee."
"Also ohne Führungszeuchnis bekommen Se ooch keen Kredit, mein Herr, wat gloobense denn eejentlich, wer Se sin, der liebe Jott oder wat? Det würd Ihnen wohl janz jut jefallen, mir eenfach so zu überrumpeln, wat? Ne, ne, ne, da müssense eben morjen noch mal vorbeikieken, wenn Se heute keen Führungszeuchnis ham. Tut mich leid, aber uff sowat darf ick mir nu mal nich eenlassen."
0:2, das war nun endgültig zuviel. Hurtig, um nicht zu sagen fluchtartig und mit besten Selbstmordabsichten bestückt, verließ Pjotr Meyer die Bank.

Irgendwie riecht es nach Eisbein mit Erbsenpüree, schon lange nicht mehr gegessen, bekomme richtig Appetit drauf, dachte Herr Kunze und dann stand diese Unterhosenmaske plötzlich vor ihm, bedrohte ihn mit einer Nagelfeile und zwang ihn, in einen alten VW Golf zu steigen.

Sie waren irgendwo außerhalb Berlins, fuhren mit Mordstempo auf einer engen Landstraße. Kiefern- und Birkenwälder flogen vorbei. Herr Kunze saß ganz entspannt im Beifahrersitz. Er wußte, er mußte sterben und irgendwie war er erleichtert, daß endlich ein Schlußstrich unter all das Chaos gezogen werden würde. Er betete: "Lieber Gott ich bin so fromm, mach, daß ich in den Himmel komm." Und während er so betete, pißte er in die Hose, nicht aus Angst, nein, er mußte halt einfach mal.

Ein Schneesturm setzt ein. Aus dem trostlos grauen Himmel kommend, tanzen die Flocken wild hin und her, mal in die eine und mal in die andere Richtung. Die Bäume biegen sich im Wind, sie ächzen und stöhnen, aber sie fallen nicht. Noch nicht?

Sie fuhren jetzt auf die Bundesstraße Richtung Frankfurt/Oder, dort wohnte Familie Meyer in einem sozialistischen Plattenbau, so grau wie der Himmel, mit 15 Stockwerken, langen, finstren Gängen und einem Lift, der wohl noch nie funktioniert hatte. Meyer dachte an den Frühling, an den Blütengeruch, an den Geruch von frischem grünen Gras. Er dachte an den Sommer, an laue, sternklare Nächte und Eis essen und an den Geruch von nassem, dampfigem Asphalt, nach einem Sommerregen. Irgendwie roch es penetrant nach Urin im Auto.
Er dachte an Vögel. Er wäre jetzt gern ein Vogel gewesen, vogelfrei, sorgenfrei, einfach ein bißchen flattern und abheben und los, irgendwohin, wo es einem grad gefällt, in die Wärme, ins Licht, daß mußte grenzenlose Freiheit sein. Hätte er bloß Geld bekommen von der Bank, er wäre noch heute mit seiner Familie nach Tegel oder Schönefeld gefahren, hätte sich in ein Flugzeug gesetzt und ein bißchen anrollen und abheben und los, irgendwohin, wo es einem grad gefällt, in die Wärme, ins Licht. Seufzer aller Länder, vereinigt euch! Dieser Mann, diese Geisel, auf dem Beifahrersitz war ihm unheimlich. Saß ganz ruhig da, hatte bisher noch kein Mucks gesagt und stank so fürchterlich.

"Ähem, hallo?"
"Hallo!"
"Also, ich meine, ich wollte Sie fragen...?
"Ja?"
"Haben Sie in die Hose gepißt?"
"Ja, ich glaube."
"Auch das noch."
"Was denn noch?"
"Na erst der Reinfall mit der Bank und dann... Mist, die Zigaretten sind auch alle!"
"Hat man Ihnen denn kein Geld gegeben?"
"Nein."
"Tja, da kann man nichts machen, solche Geizhälse aber auch. Oh, was qualmt denn da?"
Der Qualm kam von vorn, aus dem Motorraum. Meyer fuhr den Wagen auf einen ausgestorbenen Parkplatz.
"So eine Scheiße, ich hab ihn mir doch gestern erst besorgt."
"Hat er viel gekostet?"
"Hmm? Nee, nichts, hab ihn mir geliehen, sozusagen."
"Sie sollten sich beim Verleiher beschweren!"
Kunze machte desweiteren den Vorschlag, den Motor provisorisch mit Schnee zu kühlen. Gesagt - getan. Der Qualm verging, aber der Motor wollte jetzt irgendwie nicht mehr anspringen.
"Da fällt mir ein, falls Sie Geld brauchen, ich hätte etwas Bargeld bei mir, das könnte ich Ihnen schenken."
"Zu gütig von Ihnen. Wie viel ist es denn?"
"10 Millionen."
"Ich bin jetzt nicht zum Scherzen aufgelegt, Mann."
"Es stimmt aber!"
"Also, ich geh dann zu Fuß nach Hause."
"Hier, zählen Sie doch mal nach!"
Kunze überreichte Meyer den Geldsack. Der zählte nach und konnte es nicht fassen. 10 Millionen DM. Tatsächlich. Jetzt konnte er mit seiner Familie in die Karibik fliegen und sich dort ein großes Haus bauen und unter Palmen Kokosmilch mit Jamaica-Rum trinken Meyer hatte noch nie einen Engel gesehen und auch nicht an Engel geglaubt. Aber dieser sonderbare Mann, den er zufällig als Geisel ausgesucht hatte, war ein Engel, ein Bote Gottes, da war er sich ganz sicher, davon war er felsenfest überzeugt, da gab es überhaupt keinen Zweifel, oder aber es war ein Verrückter. Egal.
"Sie wollen mir das also wirklich alles schenken?"
"Ja, ich bin froh, wenn ich das Zeug endlich los bin."

Sie gaben sich wortlos die Hand. Meyer nahm den Sack und ging über die verschneiten Felder und Wiesen. Kunze sah ihm lange nach, bis er durch den Nebel aus Schnee unsichtbar geworden war. Der starke Schneefall bedeckte rasch alle Fußspuren und plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob dieser Bankräuber überhaupt existierte oder nur ein Gespinst seiner Phantasie war.

Kunze setzte sich wieder ins Auto, wo es wärmer war, diesmal auf den Fahrersitz. Im Autoradio dudelte eine seltsame Koalition aus Gregorianischen Gesängen, Schlagern aus den 60er Jahren, geraptem "Morgen kommt der Weihnachtsmann" sowie "Oh Tannenbaum" und "Stille Nacht" als Techno-Version. In den Nachrichten wurde kurz über einen gescheiterten Banküberfall in Berlin berichtet. Der schwerbewaffnete, hochgefährliche Bankräuber sei mit einem alten VW Golf geflüchtet. Eine Geiselnahme wurde nicht erwähnt. Es wurde schnell dunkel, der Himmel verfärbte sich zu dunkelbraunem Milchkaffe, Kunze begann vor sich hin zu dösen. "Strangers in the night", schnulzte Frank Sinatra, der alte Mafioso, als Blaulicht den Parkplatz in einen Vorabendkrimi verwandelte. "Hände hoch, aussteigen!"
"Ah Polizei, guten Abend die Herren, freut mich, daß Sie mich endlich abholen, wurde nämlich langsam kalt hier.


ANHANG
Das war nun eigentlich das Ende der Geschichte. Für diejenigen Leser, die neugierig sind, wie es mit Herrn Kunze weiterging, sind die jetzt folgenden Zeilen als Ergänzung gedacht.

Zunächstmal gibt es natürlich verschiedene Möglichkeiten, wie es mit Kunze weitergehen konnte: 1. konventionelle Möglichkeit: Herrn Kunze kann nicht eindeutig als Täter überführt werden. Er wird aus Mangel an Beweisen freigesprochen und lebt wieder sein Leben nach Fahrplan in seiner kleinen Wohnung mit Riesenkühlschrank, Fernseher, Bett, Stuhl, Geige und bastelt wieder Vogelhäuschen.

2. amerikanische Möglichkeit (Modell Hollywood oder so): Herr Kunze wird freigesprochen, er verliebt sich in seine engagierte Anwältin und sie sich in ihn, er macht wieder eine Wandlung durch, heiratet die Anwältin und fängt mit ihr ein drittes Leben an, im gesunden Mittelmaß, bereinigt von allen gegensätzlichen Extremen seines ersten und zweiten Lebens.

3. verwirklichte Möglichkeit: Nachdem Kunze unter dringendem Tatverdacht festgenommen wurde und die Staatsanwaltschaft Berlin 2 die Ermittlungen gegen ihn wegen Banküberfalls aufgenommen hatte, dauerte es nicht mehr lange, bis es zu einem Prozeß kam. Die Berliner Zeitungen schimpften über diese "krankhafte Geldgier: erst 10 Millionen gewonnen und dann auch noch Bank überfallen". Kunze gestand ohne zögern, er sei der Täter. Dem Richter gegenüber jedoch verhielt er sich höchst ungehörig, nannte ihn eine "große, fette, schwule Sau", einen "alten, stotternden, aufgeplusterten Gockel", ein "schwitzendes, stinkendes, sabberndes Warzenschwein", eine "kastrierte, lachende Wellblechhütte", ein "wieherndes Großraumflugzeug" und noch viele andere unanständige Ausdrücke aus dem Bereich der Zoologie, 1 nachdemandren. Randbemerkung: Kunzes Pflichtverteidiger (Rainer Zufall, 32 Jahre) fielen während des Prozesses sämtliche Haare aus. Kunze erhielt eine langjährige Haftstrafe. Nach dem Urteilsspruch bedankte sich Kunze beim Richter überaus herzlich und entschuldigte sich für alle Beleidigungen. Notiz am Rande: die Ehefrau des Richters bemerkte in der Folgezeit bei ihrem Mann eine gewisse Verwirrung, die sich besonders durch Stottern, Schwitzen, Stinken, Sabbern und Wiehern bemerkbar machte. Im Gefängnis - er hatte eine Einzelzelle bekommen - hatte Herr Balthasar Kunze nun alles, was sein Herz begehrte: Ruhe, Langeweile, Eintönigkeit par Excellence. Nur einmal wurde diese Harmonie gestört, als seine Ex-Frau plötzlich aus dem Nichts auftauchte und ihm anbot, ihm zu verzeihen, wenn er ihr nur sagte, wo er die 10 Millionen versteckt habe. Doch als sie merkte, daß sie keine Chance hatte, verließ sie ihn erneut, wutschnaubend und auf Nimmerwiedersehen. Die einzige innere Wand-lung, die er durchmachte, war die, daß er jetzt nur noch Eisbein mit Erbsenpüree und Sauerkraut essen wollte. Mit einem Hungerstreik konnte er die Gefängnisleitung dazu überreden, ihm diese Sonderverköstigung zu gewähren. Kurzum: Kunze war von da ab der glücklichste Gefängnisinsasse aller Zeiten. Alles wiederholte sich, jeder Tag war wie der vorangegangene, die Ewigkeit trat aus dem Fluß der Zeit heraus und die Zeit hörte auf zu vergehen.


 
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